Der Sammelband dokumentiert Ergebnisse des französisch‑niederländischen Forschungsprojektes »MEDNAME – L’écriture publique du nom dans la culture médiévale«, das die inschriftliche Verwendung von Namen in Sakralräumen vom 5. bis zum 13. Jahrhundert untersucht hat. In den von einer Einführung und einer Abschlussbetrachtung eingerahmten 13 Beiträgen aus den Bereichen der Epigraphik, Archäologie, Kunst- und Technikgeschichte, Liturgiewissenschaft und Onomastik spiegelt sich die interdisziplinäre Anlage des Projekts. Der Mehrwert dieser Zusammenarbeit zeigt sich u. a. in den zahlreichen Querverweisen innerhalb des Bandes.
Die Beiträge in Englisch und Französisch sind vier Themen zugeordnet, die V. Debiais in seiner Einleitung (1–8) vorstellt: 1. allgemeine Überlegungen zu Namensinschriften, 2. spezifische Verwendungsweisen von Namen, 3. epigraphische Anbringungskontexte und 4. das Fehlen von Namen und nicht‑inschriftliche Namensnennungen in Sakralräumen.
Einen grundlegend einführenden Charakter hat der Beitrag von E. Ingrand-Varenne (9–39), die auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Beschäftigung mit Eigennamen von der Spätantike bis zum 12. Jahrhundert eingeht und den etymologischen Umgang mit Namen und deren Inszenierung in Inschriften beschreibt. Der inschriftlichen Ausführung und Sichtbarkeit von Namen widmet sich die von T. Grégor vorgenommene Untersuchung von 400 antiken und mittelalterlichen Steininschriften aus der Region Poitou-Charentes (41–62). Obwohl sein Ergebnis eigentlich negativ ausfällt (Namen werden nicht besonders hervorgehoben), so schärft der Beitrag doch den Blick für die technischen Aspekte der Inschriftenproduktion und der Rezeption. Die Bedeutung von Heiligennamen in Weiheinschriften im Kontext ihres Anbringungsortes am und im Kirchengebäude erläutert A. Gagné anhand von 63 Inschriften aus Südostfrankreich (63–104). Sie zeigt, dass sowohl die Inschriften als auch die Anbringungsorte (v. a. bei Türen und an Triumphbögen) einen Übergang (vom Gebäude zum geweihten Haus Gottes, von einem Bereich der Kirche in einen anderen) bilden.
Mit Bildbeischriften, die einen großen Teil der inschriftlichen Überlieferung von Namen ausmachen, beschäftigt sich V. Debiais (105–135). Er betont die große Spannbreite der unterschiedlichen Funktionen dieser Inschriften, die, mehr noch als die Identifizierung des Dargestellten, den Bildinhalt und seine Bedeutung bezeichnen, die Präsenz des Dargestellten vor Ort verankern und theologische und andere Implikationen zum Bild beitragen können. É. Mineo zeigt in ihrer Untersuchung von Künstler- und Auftraggeberinschriften des 11. und 12. Jahrhunderts (137–166), dass es meist nicht um den konkreten Beitrag des Auftraggebers, Stifters oder Künstlers ging, sondern um die Präsentation der Beteiligung an einem Werk, das ohne die Initiative der genannten Person(en) nicht existieren würde. Sie betont, dass das soziale Prestige (als vermögende, einflussreiche Stifterperson oder als angesehener Künstler) auschlaggebend für eine Namensnennung ist. An die irdischen Betrachter richtet sich der Wunsch nach Anerkennung für das Kunstwerk, während auf Gott als eigentlichem Empfänger die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod liegt. Für das persönliche Sich-Einschreiben an einem Ort in Form von Graffiti lassen sich nach C. Tedeschi mit der Zeit unterschiedliche Anbringungsmotive beobachten (167–185). Er konstatiert, dass in Früh- und Hochmittelalter v. a. eine Verbindung zwischen dem Schreiber, dem Sakralraum und damit dem dort verehrten Heiltum hergestellt werden sollte, während im Spätmittelalter memoriale und vereinzelt auch chronikalische Funktionen überwogen hätten. Tedeschi interpretiert das als grundlegenden Mentalitätswandel, von der Anbringung des Graffitos als Teil einer rituellen Praxis zu einem mehr abstrahierten Akt gemeinschaftlicher Devotion.
Die Bedeutung von Heiligennamen mit Bezug zu ihren Reliquien wird von E. Pallottini untersucht (187–222). Als Inschriftenträger werden Reliquiendosen, die in Altären eingeschlossen und damit unzugänglich sind, tragbare Reliquiare, die mindestens für einen eingeschränkten Personenkreis sichtbar sind, und der Kirchenraum selbst betrachtet. Demnach ermöglichen die Inschriften grundsätzlich die Identifizierung der Reliquien, doch noch wichtiger ist die im Namen schriftlich affirmierte Präsenz der Reliquien und damit der Heiligen in ihrer Vermittlerrolle zu Gott. C. Tréffort stellt den Gebrauch von Namen in Inschriften des Totengedenkens (Grab- und Memorialinschriften) vor (223–240). Die ganz unterschiedlichen Beispiele (u. a. Epitaphe, in denen der Name der verstorbenen Person nicht genannt wird; unzugängliche Inschriften im Grab selbst; eine Inschrift für mehrere Angehörige einer Familie) vereint die eschatologische Dimension, die generell für Inschriften der christlichen Sepulkralkultur charakteristisch ist. Mit einer Gruppe von 46 nur aus einem Personennamen bestehenden Inschriften auf spätantiken Sarkophagen aus den Provinzen Aquitania II und Novempopulana beschäftigt sich M. Uberti (241–275). Sie untersucht das Corpus aus unterschiedlichen Blickwinkeln und fragt z. B. nach Genus, Kasus und Herkunft der Namen, möglichen familiären Zusammenhängen und den archäologisch dokumentierten Fundsituationen, die u. a. die Wiederverwendung von Sarkophagen bezeugen. Diese Methodenvielfalt erweist sich für die Auswertung der Inschriften als besonders fruchtbar.
Die Bewahrung von Namen für das liturgische Gedenken steht im Mittelpunkt des Beitrags von S. Raaijmakers (277–297). Träger der Überlieferung sind Libri vitae und Libri memoriales, aber auch beschriftete Altarplatten, Grabplatten etc. dienen der Sicherung des Gedächtnisses vor Ort. In einem weiteren Beitrag (299–307) geht sie auf die Bedeutung von Namensänderungen, Beinamen und Spitznamen ein und darauf, in welchen Kontexten sie verwendet bzw. eben nicht verwendet wurden. Das liturgische Gedenken wird auch im Beitrag von E. Rose behandelt (309–316). Sie zeigt, wie die Namensnennung in der Messe im frühen und frühmittelalterlichen Christentum einerseits als materieller Akt (durch das Vorhandensein der auf verschiedenen Trägern niedergeschriebenen Namen) und andererseits als performativer Akt (durch die Rezitation) stattfand. M. Mostert erinnert in seinem Beitrag (317–326) daran, dass nur von einer Minderheit der mittelalterlichen Bevölkerung überhaupt Namen überliefert sind. Er verweist auf Unterschichten, Randgruppen und von der Gesellschaft ausgeschlossene Personen, vor allem aber auf die arme Bevölkerungsmehrheit, die sich keine Monumente des Totengedenkens leisten konnte. Bei den Überlegungen zur Bedeutung von Namen muss auch die Existenz dieser Nichtgenannten mitbedacht werden.
Die Zusammenfassung von E. Ingrand-Varenne, E. Pallottini und J. Raaijmakers (327–344) resümiert abschließend die Ziele des Projektes. Sein grundsätzliches Anliegen war es, den besonderen Quellenwert von Inschriften für viele historisch arbeitende Disziplinen eigens herauszustellen und auf die verschiedenen nationalen Editionsprojekte aufmerksam zu machen, durch die Inschriften für die Forschung inzwischen gut zugänglich geworden sind. An der thematischen wie methodischen Bandbreite der Beiträge ist zu sehen, dass dieses Vorhaben gelungen ist. Der Sammelband zeigt eindrücklich, dass Bedeutungen und Funktionen von Namensinschriften weit über die bloße Identifizierung von Personen oder Dingen hinausgehen. Dabei wird einmal mehr deutlich, dass sich das Einbeziehen verschiedener Deutungsperspektiven auf einer breiter aufgestellten kontextuellen Basis für die Auswertung von Inschriften als unabdingbar erweist.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sonja Hermann, Rezension von/compte rendu de: Estelle Ingrand-Varenne, Elisa Pallottini, Janneke Raaijmakers (ed.), Writing Names in Medieval Sacred Spaces. Inscriptions in the West, from Late Antiquity to the Early Middle Ages, Turnhout (Brepols) 2023, 386 p. (Utrecht Studies in Medieval Literacy, 56), ISBN 978-2-503-60236-3, EUR 190,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104924