Die Autorin, die bisher vor allem mit Publikationen zum frühen Mittelalter und besonders der Karolingerzeit sowie zu verschiedenen Fragen der Hagiographie (jüngst in einem Gemeinschaftswerk mit Nicole Bériou, Michel Sot und Nicolas Grimal zur heiligen Genovefa) hervorgetreten ist, legt mit dem hier anzuzeigenden Band den Text ihrer 2018 eingereichten Habilitation vor. Allerdings hat sie ihr Werk überarbeitet und allein schon durch die vielen aus dem Lateinischen übersetzten Quellenpassagen auch als ein synthetisches Werk für ein breiteres Publikum eingerichtet. Es geht ihr um die Frage, wie im frühen Mittelalter hagiographisches Schrifttum auch ein besonderes Verständnis von Zeit und Geschichte implizierte. Die Hagiographen schrieben zwar besonders in den Lebensbeschreibungen der Heiligen über Ereignisse der Vergangenheit, die aber zugleich als Heilsgeschichte verstanden wurden und damit in die Zukunft verwiesen. Die zahlreichen Aspekte einer solchen Interpretation entfaltet sie in sieben Kapiteln, die vor allem das Material des 4. bis 9. Jahrhunderts (mit Ausblicken bis ins 11. Jahrhundert) betreffen.
Damit lässt die Autorin die alten Debatten zum Verhältnis von Hagiographie und Historiographie hinter sich, bestimmt das Verhältnis neu und differenziert es vor allem entsprechend den unterschiedlichen Zeitschichten. Besonders im 8. und 9. Jahrhundert erkennt sie einen engen Bezug zwischen Hagiographie und Historiographie. Sie bezeichnet die Hagiographen sogar als »spécialistes du passé« (18). Das herangezogene Quellenkorpus ist breit und umfasst nicht nur bekannte Verfasser, sondern auch die zahlreichen anonymen Autoren. Ausgangspunkte sind die von Walter Berschin bezifferten fast tausend Viten, die bis zum 12. Jahrhundert zwischen Bretagne und Sachsen geschrieben wurden (21). Dies schließt aber vergleichend ebenso Korpora ein, die Martin Heinzelmann für Gallien oder Claudia Rapp für Byzanz erschlossen haben (21–22). Davon untersucht die Autorin etwa 800 Viten, die Gallien, Deutschland, Italien und die Bretagne betreffen. Die wichtigsten der verwendeten Dossiers werden im Quellen- und Literaturverzeichnis gesondert erschlossen (424–462).
Die einzelnen Kapitel bieten eine fortlaufende Situierung der hagiographischen Schriften im Zusammenhang der historischen Entwicklung. Im ersten Kapitel wird erläutert, wie die Viten und Passiones im 5.–7. Jahrhundert das Bild einer idealen Kirche der Heiligen entfalten. Es geht um deren Leben als Fremde in dieser Welt: Die Kirche erscheint entsprechend als Kirche der bei Gott lebenden Heiligen. Die Schriften der Hagiographen gewinnen sodann ab dem 8./9. Jahrhundert zunehmend einen historischen Gehalt im zeitgenössischen Sinn dieses Terminus (Kapitel 2). Dies zeigt sich auch am Umgang mit Zeitvorstellungen, Datierungen und Computus. Aspekte einer solchen »Chronologie« erscheinen verstärkt ab dem 8. Jahrhundert in den einschlägigen Schriften (Kapitel 3). Im vierten Kapitel geht es um teleologische Fragen und die Konzeption einer Heilsgeschichte, die von den Bischöfen als den Apostelnachfolgern maßgeblich konturiert wurde. Der Blick zurück auf alte Heilige, auf das Neuschreiben ihrer Viten und hagiographische Dossiers seit dem 9. Jahrhundert erschließt Zugänge zu den Werkstätten der Hagiographen. Manche der neuen Schriften trugen dabei auch zu einer réécriture der karolingischen Reiche bei (Kapitel 5). Das sechste Kapitel setzt sich mit dem Wahrheitsdiskurs des 9./10. Jahrhunderts auseinander, der nicht nur Fragen der Logik in den Vordergrund rückt, sondern auch die seit Cicero diskutierten Ansätze wahrhaftiger Erzählformen. Das letzte Kapitel stellt Fragen der Theodizee in den Mittelpunkt, die vor allem in Schriften des 9. bis 11. Jahrhunderts zu finden seien. Dies führt auch zu Fragen von Prophetie und Prognostik.
Das Buch gewährt eine angenehme Lektüre und liest sich trotz mancher Tabellen und Textvergleiche insgesamt sehr gut. Gegenbeispiele wären bei diesen großen Fragen und bei einem solchen Korpus gleichwohl zu finden, denn die jeweils in den Vordergrund gerückten Aspekte lassen sich zeitlich oft nicht strikt voneinander scheiden. Das Buch vermittelt aber Anregungen, darüber nachzudenken, welche anderen Geschichtskonzeptionen Hagiographen auch uns heute noch vermitteln können. Wenn man die Autorin so versteht, dass die Hagiographen eigentlich die besten Historiographen seien, weil sie als »spécialistes de la réécriture du passé« (420) anzusehen seien, dann lernt man zugleich viel über Vorstellungswelten und Mentalitäten des frühen Mittelalters. Das Buch eifert insofern den untersuchten Hagiographen nach, eine andere Wahrheit in der Geschichte zu entdecken.
Hier liegt das Hauptverdienst dieses synthetischen Werkes, das entsprechend ohne ein Register auskommt, welches man vor allem Lesern wünscht, die sich auf die Gedankengänge – ob zustimmend oder ablehnend – einlassen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Klaus Herbers, Rezension von/compte rendu de: Marie-Céline Isaïa, Une autre histoire. Histoire, temps et passé dans les Vies et Passions latines (IVe‑XIe siècle), Aubervilliers, Paris, Orléans (Institut de recherche et d’histoire des textes) 2023, 490 p. (Bibliothèque d’histoire des textes, 4), ISBN 978-2-493-20906-1, DOI 10.4000/books.irht.995, EUR 33,50., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104925