Der unermüdliche Emeritus der Universität Lausanne und ohne Zweifel einer der besten Kenner des mittelalterlichen Papsttums legt ein beeindruckend umfangreiches Werk vor, das ein Thema abdeckt, welches in der Polemik gegen das Papsttum und die katholische Kirche immer wieder verwendet wird, obwohl die Geschichte von der Päpstin, die geschwängert und bei der Geburt ihres Sohnes gestorben und rasch begraben worden sei, längst widerlegt und als eine frivole Anekdote entlarvt worden ist. Das Buch hat seinen Ursprung in Seminaren an der Heimatuniversität des Verfassers und gründet in der intensiven Beschäftigung mit Autoren, die sich in jüngerer Vergangenheit mit der Päpstin Johanna auseinandersetzten: Cesare D’Onofrio, Alain Boureau, Gilmo Arnaldi, Elisabeth Gössmann, Max Kerner, Klaus Herbers, Peter Stanford und das Ehepaar Rosemary und Daroll Pardoe. Die Zielsetzung des Werkes ist jedoch nicht eine neue Monographie zum Thema, sondern eine Sammlung von 118 spezifischen mittelalterlichen Quellen, ihre Einordnung und ihre Kritik nach allen Regeln der Kunst und eine Übersetzung ins Italienische, um die Verbreitung innerhalb des gebildeten Publikums und der Studierenden des Faches zu verbessern. In den Fällen, wo sich dies als notwendig erwies, verbesserte der Autor die Texte nach eingehendem Studium der Handschriften.

In einem ausführlichen Eingangskapitel (3–114) stellt er die Texte überblicksmäßig vor, beginnend mit den ältesten, um 1250 einsetzenden Zeugnissen (Weltchronik des Dominikaners Jean de Mailly aus Metz, die Chronica minor eines Minoriten aus Erfurt, Stefan von Bourbon und Martin von Troppau), wobei dem Letztgenannten die Rolle eines Multiplikators wegen der weiten Verbreitung seiner Papst- und Kaiserchronik zukommt. Dieses Eingangskapitel, in dem auch der wahrscheinlich römische Ursprung der Legende erörtert wird, stellt die literaturgeschichtliche, motivgeschichtliche und quellenkritische Synthese dar und überschneidet sich mit den weiter oben zitierten Studien zur Päpstin. In überzeugenden Beobachtungen lässt Paravicini Bagliani einen Autor nach dem anderen Revue passieren und zeigt Abhängigkeiten und Erweiterungen auf. Bemerkenswert ist dabei die geographische Verbreitung, denn im deutschsprachigen Raum wurde die Geschichte am stärksten rezipiert. Es folgt Italien und mit größerem Abstand Frankreich, während Spanien fast frei von der Päpstin Johanna blieb. Der Name Johanna und Beifügungen wie Anglicus und/oder Margantinus stammen von Martin von Troppau, während die anderen älteren Quellen keinen Namen kennen. Auch die chronologische Einordnung zwischen Leo IV. (847–855) und Benedikt III. (855–858) geht auf den polnischen Dominikaner zurück. Ein besonderer Abschnitt ist der Legende von der Überprüfung des männlichen Geschlechtes des zum Papst Gewählten gewidmet, welche oft im Zusammenhang mit dem Text zur Päpstin Johanna überliefert ist. Die sedes stercoraria aus Porphyr, welche noch heute im Kreuzgang der Lateransbasilika steht, wird erstmalig von dem Dominikaner Robert von Uzès in seinem Liber visionum (ca. 1291–1296) mit dieser angeblichen rituellen Zeremonie in Zusammenhang gebracht. Der Hauptteil des Buches (115–553) enthält die 118 Texte mit Übersetzung, Hinweisen zu bisherigen Editionen und wissenschaftlicher Literatur und einem zum Teil umfangreichen Kommentar, in dem Fragen der Abhängigkeiten, Umstände der Entstehung und Überlieferung erörtert werden. Hier zeigt sich die Souveränität des Autors, der scheinbar mühelos von einem Land zum anderen springt, auch die entlegensten Autoren miteinbezieht und sogar Marginalien von Handschriften verwertet, mitunter kodikologische und textkritische Fragen aufwirft und löst und an diesem Beispiel, das eine gewisse Attraktivität bis zur Jetztzeit aufweist, den ganzen Reichtum von mittelalterlichen Texten, ihrer Entstehung und Verbreitung aufzeigt. Wie nicht anders zu erwarten, sind die Abschnitte zu den oben genannten ältesten Zeugnissen von der Päpstin Johanna die umfangreichsten (z. B. Martin von Troppau, 170–198). Die Übersetzungen sind elegant und gleichzeitig nahe beim Text, was eine Kontrolle ermöglicht. Signifikant häufiger begegnet die Geschichte in Chroniken und anderen Texten, die von Mitgliedern der Bettelorden verfasst wurden. Nicht zu verwundern mag die Tatsache, dass sie auch in volkssprachliche (französische, deutsche, englische, niederländische) Texte übernommen wurde. Der Leser ist überrascht, bei wie vielen Autoren man die Geschichte in den unterschiedlichsten Varianten finden kann, z. B. Giovanni Boccaccio, De mulieribus claris (399–407), Laónikos Chalkondýlēs, Historiae, 1453/1463, griechisch (467–472). Sogar in die Traktatenliteratur, die die Stellung des Papsttums zum Thema hat, fand die Anekdote Eingang (Johannes Quidort, De potestate regia et papali; Wilhelm von Ockham, Dialogus und Quaestiones de potestate papae; Heinrich von Langenstein, Epistola consilii pacis; Wycliff, Cruciata; Jan Hus, De Ecclesia; u. a.).

Mehrere Tabellen erleichtern die Benützung des umfangreichen Werkes: Autoren und ihre Werke – Genera der Texte (Chroniken, Weltchroniken, Hagiographisches usw.) – Sprachen – Textabhängigkeiten – Elemente der Biographie der Päpstin Johanna – Namensvarianten – Ihr Liebhaber – Die wichtigsten Textelemente – Orte des Geschehens – Abbildungen – Geschlechtsüberprüfung. Und 120 Farbtafeln, zumeist von Handschriftenseiten, sind nicht nur Illustration, sondern Teil der Textkritik. Ein umfangreiches Register erschließt dieses monumentale Werk, mit dem die Diskussion um die Päpstin Johanna als abgeschlossen bezeichnet werden kann.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Maleczek, Rezension von/compte rendu de: Agostino Paravicini Bagliani, La papessa Giovanna. I testi della leggenda (1250–1500), Firenze (SISMEL – Edizioni del Galluzzo) 2021, 694 p. (Millennio Medievale, 120), ISBN 978-88-9290-130-8, EUR 140,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104930