Die mittelalterliche Legende der Päpstin Johanna hat bis in die Gegenwart das Interesse eines breiten Publikums erregt, wie zahlreiche populärwissenschaftliche Publikationen sowie Romane und Filme bezeugen. Auch in der jüngeren Geschichtsforschung sind nach einer umfassenden Studie Cesare D’Onofrios1 mehrere Aufsätze und Monographien erschienen, welche die Entstehung und Verbreitung der Legende des »weiblichen Papstes« vertiefend untersucht haben.2 In diesen Forschungskontext fügen sich die jüngsten Untersuchungen Agostino Paravicini Baglianis ein, der 2021 die bisher umfangreichste Quellensammlung zur Päpstin Johanna veröffentlichte.3 Bei den 109 gesammelten Auszügen handelt sich um literarische Texte, die von 1250 bis 1500 in Latein, Griechisch und Volkssprachen verfasst wurden. Die von dieser ausführlich kommentierten Quellensammlung erregte Forschungsdebatte hat zwei Jahre später eine weitere Publikation veranlasst, in der Paravicini Bagliani »dokumentarische und interpretative Neuigkeiten« berücksichtigt und zugleich eine »kompaktere Zusammenfassung der erzielten Forschungsergebnisse« (IX) bietet.

Das Buch ist in zwei Haupteile gegliedert. Der erste Teil (3–112) ist eine einführende Studie, die die Entstehung und Entwicklung der literarischen Tradition zur Päpstin Johanna erläutert, wobei auch geographisch sowie kulturell und institutionell bedingte Spezifitäten der Überlieferung sorgfältig untersucht werden.

Besondere Aufmerksamkeit wird den drei unabhängigen Zeugnissen der Legende geschenkt. In Bezug auf die Chronica universalis Mettensis (1250–1254) des Dominikaners Jean de Mailly hebt Paravicini Bagliani hervor, dass drei zentrale Elemente der Erzählung, d. h. die dreigeteilte Karriere der Päpstin (Notar, Kardinal, Papst), die von der Romana iustitia verhängte Strafe und der Hinweis auf das päpstliche Pferd, sich wohl auf das Umfeld der römischen Kurie im 13. Jahrhundert zurückführen lassen. Durch die Erforschung der autographischen Handschrift lat. 14593 der Bibliothèque nationale de France verdeutlicht der Verfasser zudem, dass die mit der Notiz Require ausgedrückte Unsicherheit des Chronisten nicht die Historizität der Päpstin, sondern vielmehr die genaue chronologische Einordnung ihres Pontifikats betraf.

Die Chronik von Jean de Mailly und die Chronica minor (ante 1261) eines anonymen Franziskaners aus Erfurt sind zwar die ältesten unabhängigen Zeugnisse der Legende, Paravicini Bagliani verdeutlicht jedoch, dass sie keinen bedeutenden Einfluss auf die spätere Überlieferung ausgeübt haben. Denn die meisten untersuchten Texte (101 von 109) hängen dagegen – direkt oder indirekt – von einer dritten Version ab, die in der Rezension C des Chronicon pontificum et imperatorum (1277) Martins von Troppau überlieft ist. Dieser erkannte zwar die Historizität der Päpstin völlig an, lehnte jedoch ihre Legitimität nachdrücklich ab und stiftete eine wahrhafte »Gegen-Erinnerung« (32–33). Die Durchsetzung dieser Version in der literarischen Tradition erklärt der Verfasser nicht nur mit dem allgemeinen Erfolg der Chronik Martins, sondern auch mit der Tatsache, dass der böhmische Chronist verschiedene neue Informationen über die Päpstin lieferte: einen Papstnamen (Iohannes), eine Herkunft (Anglicus und Margantinus), eine präzise Einordnung in die Reihe der Päpste – nach Leo IV. (847–855) – wie auch eine genaue Dauer ihres Pontifikats.

Die einzelnen Elemente der literarischen Tradition – wie die herausragende Bildung der Päpstin, die Papstwahl, die Schwangerschaft sowie die den Betrug enthüllende Geburt – sind Gegenstand einer akribischen intertextuellen Analyse. Darüber hinaus setzt sich der Verfasser auch mit einigen Forschungsthesen zum Ursprung der Legende kritisch auseinander. Im Mittelpunkt der Analyse stehen dabei der schon von Jean de Mailly überlieferte Vers der papissa, dessen Ausdruck Pater Patrum Ignaz von Döllinger auf eine mithraische Inschrift zurückführen zu können glaubte, und die angeblich in Rom existente Statue der Päpstin, in der der Verfasser wohl ein rein narratives Element sieht, das eine in der martinischen Version fehlende Memorialfunktion ausgeübt habe. Nach der Betrachtung der bildlichen Darstellungen der Legende geht Paravicini Bagliani auf die »Feminisierung« von Namen und Titel ein, die er überzeugend mit einer zunehmend frauenfeindlichen Haltung der Autoren in Verbindung setzt.

Behandelt wird in einem speziellen Teilkapitel (83–90) auch die angebliche Überprüfung der Männlichkeit des neugewählten Papstes, die in allen 21 darüber berichtenden Quellen – explizit oder implizit – mit der vorausgegangenen Papsterhebung einer Frau in Verbindung gesetzt wird. Besonders hervorgehoben wird durch Paravicini Bagliani die Meinungsverschiedenheit der ersten Zeugen über den verwendeten Stuhl und die zuständigen Kleriker sowie der auffällige Widerspruch mit dem etablierten Verfahren bei der Papsterhebung.

Die Schlussbetrachtung (91–112) bietet nicht nur eine prägnante Zusammenfassung der Forschungsergebnisse, sondern auch eine aufschlussreiche Einbettung der Legende in den Kontext der Debatte über die Ordination von Frauen, an der im 12. und 13. Jahrhundert einflussreiche Theologen und Kanonisten teilnahmen.

Der zweite Hauptteil (113–247) des Bandes besteht aus einer Auswahl von Quellenauszügen über die Päpstin, die in thematische Unterkapitel gegliedert sind. Jeder Text wird in italienischer Übersetzung sowie (in verkleinertem Format) in der Originalsprache wiedergegeben. Abhängigkeiten von früheren Quellen werden durch Kursivschrift oder Unterstreichungen hervorgehoben. Ein eigentlicher kritischer Apparat ist nicht vorhanden; einige inhaltlich relevante Varianten sind dennoch in den Fußnoten aufgeführt. Auf den Quellentext folgen Angaben zu Handschriften bzw. Editionen sowie ein Sachkommentar, in dem der jeweilige Entstehungskontext und die für die Entwicklung der Legende als besonders relevant erachteten Textelemente näher betrachtet werden. Berücksichtigt werden auch konfessionell bedingte Zensuren (179–182) sowie Hinzufügungen und Interpolationen (183–185).

Abgeschlossen wird der Band durch eine alphabetisch sowie chronologisch sortierte Liste von Autoren und Texten mit Verweisen auf die vollständige Quellensammlung, einen Abbildungsapparat, eine selektive Bibliographie und die üblichen Register.

Insgesamt leistet die Studie Paravicini Baglianis einen sehr relevanten Beitrag zur Erforschung der Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der Legende der Päpstin Johanna. Dank einer ausgeprägten philologischen und kodikologischen Sensibilität sowie einer tiefen Kenntnis der päpstlichen Rituale ist es dem Verfasser gelungen, an mehreren Stellen frühere Editionen und Forschungsthesen zu revidieren und aufschlussreiche Neudeutungen zu bieten. Einige inhaltliche Redundanzen schmälern keineswegs den hohen Wert der Publikation, die einen unumgänglichen Bezugspunkt bei der weiteren Auseinandersetzung mit der Legende darstellen soll.

1 Cesare D’Onofrio, La papessa Giovanna. Roma e papato tra storia e leggenda, Rom 1979.
2 Vgl. insbes. Alain Boureau, La papesse Jeanne, Paris 1988; Elisabeth Gössmann, Mulier papa. Der Skandal eines weiblichen Papstes. Zur Rezeptionsgeschichte der Gestalt der Päpstin Johanna, München 1994; Max Kerner, Klaus Herbers, Die Päpstin Johanna. Biographie einer Legende, Köln [u. a.] 2010.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Francesco Massetti, Rezension von/compte rendu de: Agostino Paravicini Bagliani, La papessa Giovanna e le sue leggende. Un percorso di ricerca tra codici e testi, Firenze (SISMEL – Edizioni del Galluzzo) 2023, 283 p. (Galluzzo Paperbacks, 6), ISBN 978-88-9290-229-9, EUR 32,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104931