Die für die Lokalgeschichte des Agenais ausgewiesenen Françoise Lainé und Pierre Simon, die zusammen mit Jean-Loup Lemaître schon die Edition der Nekrologien der Abtei Clairac verantwortet haben, legen hier die verstreuten Reste der Memorialtradition der Kathedralkapitel von Agen (dép. Lot-et-Garonne) vor und stellen sich damit erfolgreich einer komplizierten Aufgabe. Mit Recht übernimmt Jacques Verger in seinem Vorwort das im Text (97) benutzte Bild eines »Puzzles«, um die über viele Handschriften mit wenigen Einträgen verstreuten Teile der Überlieferung zu charakterisieren.
Aus den originalen Nekrologien kopierte zunächst im 17. Jahrhundert der bekannte Mauriner Claude Estiennot knappe Auszüge. Diese wurden später ergänzt durch Aufzeichnungen, die – von lokalen Archivaren und Historikern gesammelt – als Vorarbeiten zu einer größeren Edition des Quellenbestandes aus Agen dienen sollten. Alle diese Einzelelemente zu schlüssigen Listendarstellungen zu vereinigen war also eine besondere Herausforderung für diesen Band der Obituaires-Reihe.
Ein ausführlicher Einleitungsteil bietet einen Überblick über die Geschichte der Stadt Agen und die Besonderheiten der Kathedralkirchen Saint-Étienne und (später) Saint-Caprais mit den Kanonikern der beiden Kapitel von der Merowingerzeit bis ins 17. Jahrhundert (21–83). Die Frage der zwei Kathedralkirchen und ihrer Kapitel nimmt dabei breiten Raum ein (37–79). Statuten, Personal und wirtschaftliche Bedingungen werden im Einzelnen vorgestellt, und die Auswirkungen dieser besonderen Konstellation auf das Gedenkwesen (z. B. doppelte Memorialstiftungen) erörtert.
Es folgt mit minutiösen Einzelheiten eine kritische Beschreibung der benutzten Handschriften (85–121). Berücksichtigt werden neben kleineren lokalen Quellen folgende Manuskripte: Zunächst die schon im Répertoire des documents nécrologiques français1 unter den Nummern 2881–2883 erwähnten Handschriften, zu Saint‑Étienne: Paris, Bibliothèque nationale de France (BnF), lat. 12773, p. 63–64, bzw. Agen, Archives départementales du Lot‑et‑Garonne H 1 und zu Saint-Caprais: Paris, BnF, lat. 12773, p. 62‑63 (Seitenzahl in der Edition [193] fälschlich 664). Im Weiteren: Paris, BnF, fr. 14426, p. 215–216, Agen, Bibliothèque municipale, ms. 9 und rés. 69, Agen, Archives départementales du Lot‑et‑Garonne, G 3, 12 J 301 und 91 J 3, p. 124–126. Dazu treten zahlreiche kleinere Quellen und sogar Chartularnotizen. Zuletzt müssen noch Originalmanuskripte des 16. Jahrhunderts genannt werden; sie sind wohl als Register der kirchlichen Finanzverwaltung in der Frühen Neuzeit anzusehen und präzisieren vor allem die liturgischen Leistungen und ihre Finanzierung.
Die verlorenen Handschriften der ursprünglichen Überlieferung reichen, wie nachgewiesen wird, nur bis in das 13. Jahrhundert zurück; man kann hier wohl von dem Typus der üblichen Kapitelsbücher ausgehen. Erhalten sind vor allem die Namen geistlicher Würdenträger. Da diese Auswahl schon den selektiven Kopien zuzuschreiben ist, sind Interpretationen nur sehr eingeschränkt möglich. Die Tatsache des schmalen späten Zeithorizonts wird in der Edition verglichen mit ähnlichen Merkmalen anderer Nekrologüberlieferungen aus dem Bordelais (97), allerdings fehlen hier Überlegungen zu einer eventuellen Reduktion der Gedenkverpflichtungen aus wirtschaftlichen oder liturgischen Gründen, wie sie im Spätmittelalter durchaus üblich sein konnten. Die Rekonstruktion der martyrologischen Überlieferung (131–146) berücksichtigt auch die dort verstreut enthaltenen nekrologischen Notizen (150–154). Obwohl die datierbaren Memorialeinträge aus einem Zeitraum von mehreren Jahrhunderten (13.–17. Jh.) stammen, nennen die erhaltenen Quellen aus den beiden Kathedralkapiteln nur rund 670 Personen. Da es sich dabei vorrangig um weltliche und kirchliche Funktionsträger – nahezu ausschließlich mit regionalem Bezug – handelt, konnten diese in der Edition zum größten Teil identifiziert werden. Das geschieht ausführlich in den Anmerkungen mit reichen Verweisen auf die lokalgeschichtliche Forschung.
Für die Kulturgeschichte ebenso wie für die Geschichte der Volksfrömmigkeit interessant sind die sehr ausführlichen Texte der Messstiftungen des 16. und 17. Jahrhunderts für verschiedene Kirchen und Kapellen in Agen (227–301), die in zahlreichen Einzelheiten rechtliche Belange ebenso ansprechen wie liturgische Besonderheiten oder die Bezahlung der Priester. Fragestellungen wie Auswahl und Komposition der Nekrologien lassen sich angesichts der extrem fragmentierten Überlieferung nicht verfolgen. Die Teilstücke können kein Gesamtbild der personellen Ausstattung der Kathedralkapitel und ihrer Einbindung in die Gesellschaft des Agenais bieten. Die Erträge dieser Edition sind deshalb eher für die Lokalgeschichte und allgemein für kulturhistorische bzw. religionsgeschichtliche Bereiche nützlich. Leider wird in der breiten Forschung immer noch unterschätzt, wie wertvoll die vom Alltagsleben geprägten Memorialquellen für solche Untersuchungen sein können.
Die Benutzung ist nicht immer leicht. In jedem der vielen Editionsteile werden die Siglen für die einzelnen Handschriften neu und unterschiedlich vergeben. Das erschwert die Arbeit mit der Publikation erheblich. Die Memorialeinträge sind, wie auch in anderen Editionen dieser Obituaires-Reihe, durchgehend nummeriert und erleichtern Querverweise und Indexbenutzung. Diese sinnvolle Gewohnheit wird leider nicht in den technischen Erläuterungen erwähnt.
Karten zur Stadtentwicklung, Gebäudefotos und Faksimiletafeln ergänzen und illustrieren die Themen des Bandes. Das umfangreiche Personen- und Ortsregister sowie der Sachindex (341–397) ermöglichen ein sinnvolles Arbeiten mit den disparaten und zeitlich weitgespannten Editionsteilen. Die Lemmata nennen dankenswerter Weise auch die lateinischen Begriffe und Namenformen. Leider wird der mehr als 120 Seiten umfassende Einleitungsteil mit seinen wertvollen Informationen zur Geschichte der geistlichen Institutionen sowie der komplexen Überlieferungsgeschichte der Quellen in den Indices nicht berücksichtigt. Angesichts der rund 50 benutzten Handschriften wäre nicht zuletzt auch ein Register dieser Quellen wünschenswert gewesen.
Insgesamt betrachtet erhält die Forschung mit dieser sorgfältigen und komplexen Edition einen wertvollen Einblick in bisher wenig erschlossene Bereiche der mittelalterlichen Gascogne.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Franz Neiske, Rezension von/compte rendu de: Françoise Lainé, Pierre Simon (éd.), Les obituaires de Saint-Étienne et Saint-Caprais d'Agen, Jean-Loup Lemaitre (collab.), Jacques Verger (dir.), Paris (Académie des inscriptions et belles-lettres) 2023, X–402 p., 3 fig., 21 pl. (Recueil des historiens de la France. Obituaires. Série in-8°, 29), ISBN 978-2-87754-699-7, EUR 60,00.., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104937