Michel Zink zeigt sich auch in seinem neuen Buch als einer der besten Kenner des (französischen) Mittelalters. Das Werk ist die Frucht einer zwischen Dezember 2014 und Februar 2015 am Collège de France gehaltenen Vorlesung. Gleich in der Einleitung weckt der Verfasser unter der Überschrift »Heureuses contradictions« berechtigte Zweifel an der landläufigen Vorstellung eines dunklen Mittelalters. Nicht ohne Polemik wird der widersprüchliche Charakter der Epoche auf ihren Umgang mit den »simples gens« zugespitzt: Die Erfordernisse des christlichen Glaubens erklärten die Notwendigkeit, mit dem einfachen Volk in einer Sprache zu sprechen, die es auch verstehe, nämlich nicht auf Latein, sondern in der »Volkssprache«. Und paradoxerweise habe gerade die Kommunikation mit den illiterati letztlich die französische Literatur hervorgebracht (8–9).

Die altfranzösische Redewendung »simples gens« bzw. im Singular »la simple gent« wurde – wie der Verfasser einleitend präzisiert – meist im religiösen Bereich und insbesondere im pädagogischen Kontext der Pastoralarbeit verwendet (9). Als Antonym zum clericus ist der »Laie« vom Buchwissen ausgeschlossen, auch wenn er durchaus rudimentär alphabetisiert sein konnte. Im letzten Unterkapitel der Einleitung (»Qui est simple?«) wird die Ambiguität des Terminus »simple« problematisiert, der nicht notwendigerweise pejorativen Charakter haben müsse, sondern auch positive Konnotationen (z. B. Unverdorbenheit, Aufrichtigkeit) haben könne.

Der Hauptteil des Werkes gliedert sich in elf nicht nummerierte Kapitel zu ganz unterschiedlichen Textformaten, unter denen die Predigt eine prominente Stellung einnimmt. »Un sens pour les simples« (49–54) zeigt am Beispiel des Sponsus, einem zweisprachigen liturgischen Spiel aus dem 11. Jahrhundert, wie ein und derselbe Text je nach Sprachkompetenz der Zuschauer unterschiedliche Bedeutungen entfalten kann. Das weitaus umfangreichere zweite Kapitel (55–76) behandelt die Reflexionen des Theologen Jacques de Vitry (ca. 1165‑1240) über die homiletische Praxis im Prolog zu seinen Sermones vulgares vel ad status, Predigten also, die sich an alle sozialen Gruppen gleichermaßen richten. Der Paratext diskutiert Strategien wie etwa den Gebrauch von Exempeln, mittels derer man die einfachen Leute erreiche. Zielgruppe seien jedoch nicht die »simples gens« selbst, sondern Prediger, denen eine »prédication virtuelle« (76) zur Verfügung gestellt werde. Mit Maurice de Sully (ca. 1120‑1196) wird im folgenden Kapitel ein solcher Kanzelredner in den Blick genommen (77–99). Am Beispiel des Homiliars des Bischofs von Paris, das sowohl in einer lateinischen als auch in einer französischen Fassung überliefert ist, wird sehr anschaulich vorgeführt, wie man sich die Praxis der Predigt vorzustellen hat, welche Exempla in welcher Form verwendet wurden, wie beispielsweise die Angst vor dem Teufel geschürt wurde, aber auch, wie das Publikum reagierte, etwa mit Ungeduld bei zu weitschweifigen Rednern. Während Sully insgesamt als maßvoll und im Grunde tröstlich charakterisiert wird, gerät mit dem sogenannten Sermon d’Amiens aus dem späten 13. Jahrhundert (»Entre édification et démagogie«, 101–129) eine Predigtpraxis in den Blick, die mit Mitteln wie Stimmausbrüchen, Interjektionen, Apostrophierungen, Wiederholungen und schnellen Wechseln von drohenden und einvernehmlichen Tönen operiert. Zink veranschaulicht am Beispiel dieses anonym gebliebenen Redners wie ein »Intellektueller« sich auf artifizielle Weise in Form eines Pastiches der Sprache der einfachen Leute bediene, um Nähe zu simulieren, die dann regelmäßig durch den Gebrauch des Lateinischen wieder zerstört werde. Eines der verwendeten Mittel ist die Kontrafaktur volkstümlicher Tanz- und Liebeslieder, eine Strategie, die im darauffolgenden Kapitel (»Prêcher sur une chanson de danse«, 131–156) genauer unter die Lupe genommen wird. Zink weist nach, dass im Unterschied zu Jacques de Vitry, Maurice de Sully und dem Sermon d’Amiens, die die Sprache der einfachen Leute imitieren, um komplexe Gedanken zu vermitteln, in den hier analysierten Predigten ein entgegengesetztes Prinzip wirksam werde: Die Homilien nähmen ihren Anfang bei der volkstümlichen Dichtung, um zu zeigen, dass sich aus ihr komplexe Konzepte ableiten lassen (149).

Unter der Überschrift »Simplifier en amplifiant« (159) wirft Zink sodann einen kurzen Blick auf die Gattung der Parabel, genauer auf die französische Übersetzung von zwei lateinischen Parabeln (De filio regis; De tribus filiabus regis) des heiligen Bernhard von Clairvaux (ca. 1090–1153). Der Verfasser arbeitet heraus, dass die volkssprachliche Fassung, die sich an ein nicht des Lateinischen mächtiges, oftmals weibliches Lesepublikum richtete, den Modelltext vereinfachte und die narrativen Strukturen amplifizierte, um als »prédication dans un fauteuil« (168) wirken zu können. Auch Jean Gerson (1363–1429), dem das folgende kurze Kapitel gewidmet ist (»Jean Gerson et ses sœurs«, 169–177), hatte die Frauen im Blick, als er bewusst in französischer Sprache eine Abhandlung über die Kontemplation verfasste und diese Entscheidung auch einleitend reflektierte (»La cause d’escripre en françois et aux simples gens de la matière de contemplation«, 171).

Mit dem kurzen achten Kapitel (»Faire parler les simples«, 179‑182) erfolgt eine Zäsur, nach der die »simples« selbst zu Wort kommen, auch wenn dies – worauf ausdrücklich hingewiesen wird (182) – in literarischen Werken aus der Feder gelehrter Autoren passiert, die die Sprache des Volkes imitieren. Als Beispiele werden im Folgenden die Figuren Calogrenant aus dem Chevalier au lion von Chrétien de Troyes und der hässliche Rinderhirt aus Aucassin et Nicolette vorgestellt (183–191). Während hier der soziale Unterschied tonangebend ist, wird in der Pastourelle die Geschlechterdifferenz zentral (193–208).

In dem »Un coup d’œil ailleurs« überschriebenen Schlusswort (209‑213) stellt sich der Verfasser dem möglichen Vorwurf, er habe das Mittelalter beschönigend dargestellt. Zu seiner Verteidigung führt er provokant mit Jean-François Cassier einen Landpfarrer des 18. Jahrhunderts ins Feld, der sich bitter darüber beklagt, dass er gezwungen sei, für seine animalischen Gemeindemitglieder, die einen fürchterlichen Dialekt sprächen, Sorge zu tragen: »Voilà bien le Moyen Âge, dira-t-on!« (213).

Parler aux »simples gens«. Un art médiéval ist eine überaus anregende Lektüre und dies keinesfalls nur für Mediävisten oder Französisten. Die Problematik ist weder auf das Mittelalter noch auf Frankreich begrenzt, und es wäre überaus wünschenswert, wenn das Buch auch in einer deutschen Übersetzung publiziert würde.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Folke Gernert, Rezension von/compte rendu de: Michel Zink, Parler aux »simples gens«. Un art médiéval, Paris (Les Éditions du Cerf) 2023, 225 p., ISBN 978-2-204-14001-0, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104940