Seit einigen Jahren ist das Thema Blasphemie zu einem Leitmotiv der gegenwärtigen globalen Kulturkonflikte avanciert. Entsprechend haben auch Studien zur Geschichte der Gotteslästerung Konjunktur. Nachdem lange Zeit vornehmlich die älteren Epochen im Fokus standen, rückte zuletzt mehr und mehr die jüngere Vergangenheit in den Vordergrund. Wie viel es hier noch zu entdecken, erforschen und vergleichend einzuordnen gilt, macht der vorliegende Band deutlich, Frucht eines Ghenter Kolloquiums vom März 2020. Wie Eveline G. Bouwers in ihrem Einleitungsessay darlegt, sollten dabei insbesondere die Verbindungen zwischen Blasphemie und Gewalt ausgelotet werden. Die Gemeinsamkeit beider Konzepte liege nicht zuletzt darin, dass sie sich begrifflich und sachlich nicht leicht auf den Punkt bringen ließen. Blasphemie bezeichnet Bouwers z. B. als ein »konzeptuelles Chamäleon«. Auf dieser Grundlage gelangt sie zu einer dreipoligen Typologie, nach der im Band auch die einzelnen Beiträge arrangiert sind: Gotteslästerung erstens als Begleiterin von Gewalt, zweitens als Form von Gewalt sowie drittens als »Trigger« für Gewalt bzw. als Reaktion auf Gewalt. Im Folgenden sollen die Beträge jedoch in einer intuitiv zugänglicheren, nämlich chronologischen Reihenfolge vorgestellt werden.

Der Reigen der Fallstudien wird mit einem wichtigen Beitrag zur Französischen Revolution eröffnet, verfasst von Alain Cabantous, einem »Altmeister« der historischen Blasphemieforschung. Die Revolutionsjahre waren tatsächlich ein Angelpunkt in der Geschichte der Gotteslästerung. Das ergibt sich einerseits aus ihrer konsequenten Abschaffung: Der Code Pénal von 1791 enthält keinen einschlägigen Paragrafen mehr, Kulminationspunkt einer Entwicklung, die sich bereits in der aufklärerischen Debatte und in der schleichenden Entkriminalisierung der Blasphemie seit den 1730er-Jahren andeutete. Zugleich blieb der Vorwurf der Blasphemie im politischen Diskurs der Revolution jedoch überraschend lebendig, wobei nun der Angriff auf andere »heilige« Dinge angeprangert wurde; an die Stelle von Gott bzw. Religion traten als sakrosankte Werte die Republik, die Souveränität des Volkes oder das Vaterland. Als ein »anderer Typ transgressiver Gewalt« neben der Blasphemie werden die rabiaten Dechristianisierungskampagnen auf dem Höhepunkt der Revolution vorgestellt. Wie dort christliche Symbole entwertet und herabgewürdigt wurden, gleicht in frappierender Weise den rituellen Bilderstürmen des Spätmittelalters, der Reformationszeit und der Religionskriege.

Gleichsam spiegelbildlich zu Cabantous verfolgt Marco Emanuele Omes die wechselvolle Geschichte der Blasphemie im Kirchenstaat während der Revolutionsjahre. Die zweimalige französische Besetzung des päpstlichen Herrschaftsgebietes hatte ganz unterschiedliche religionspolitische Profile: In der kurzlebigen Römischen Republik 1798/9 kam es zu antireligiösen Aktionen bis hin zur demonstrativen Verbrennung von Inquisitionsdokumenten. Das neue Strafrecht nach der napoleonischen Annexion (1809–1814) dagegen enthielt zwar keinen klassischen Gotteslästerungsparagrafen mehr, sanktionierte jedoch die Störung des Religionsfriedens mit Geldstrafen. Umgekehrt belegten nach 1799 bzw. nach 1814 verschiedene Gremien der Restaurationszeit antireligiöse Verhaltensweisen mit verschiedenen Sanktionen.

Zwei Beiträge widmen sich dem langen 19. Jahrhundert. Da ist einmal der Beitrag des Mitherausgebers David Nash, der ebenfalls ein wichtiger Pionier der Blasphemiegeschichte ist.1 In der pluralen und multikonfessionellen Gesellschaft Englands, so Nash, sei die Verbindung von Blasphemie und Gewalt im Bereich der Imagination verblieben. Trotzdem spielte sie eine signifikante Rolle: Während Protagonisten der Freidenker-Bewegung wie W. G. Foote im Kampforgan »The Freethinker« die gewalttätigen Seiten der christlichen Religion mit ihrem rachsüchtigen Gott anprangerten, sorgten sich die Gerichte um die möglichen Störungen des öffentlichen Friedens durch antireligiöse Attacken. Christoffer Lebber beschäftigt sich mit der Jato-Affäre im Wilhelminischen Kaiserreich: Der populäre Kölner Pfarrer Carl Jatho wurde 1911 aufgrund seiner unorthodoxen, mit monistischen und pantheistischen Elementen durchsetzten Verkündigung von einer Spruchkammer der altpreußischen Landeskirche seines Amtes enthoben. In der öffentlichen Debatte wurde seine Position von konservativer Seite gelegentlich als blasphemisch gekennzeichnet, während Jathos liberale Verteidiger die lutheranische »Inquisition« gegen den Mann verdammten. Die Affäre ist ein interessantes Beispiel für das Ringen um die Freiheit des Denkens und des religiösen Bekenntnisses, im Kern aber geht es um ein kircheninternes Häresieverfahren und kaum um Gotteslästerung.

Zwei weitere, eng miteinander korrespondierende Beiträge eröffnen faszinierende Einblicke in die spanische Geschichte. An die Schnittstelle von Alltagsblasphemie und Kulturkampf führt der Beitrag von Matthew Kerry über den »Sound of Blasphemy« auf den Straßen spanischer Städte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gotteslästerliches Reden wurde in dieser Zeit von Katholiken ebenso wie von liberalen Kommentatoren verurteilt, von den ersteren eher als Sünde, von den letzteren als moralisch-sittliches Fehlverhalten; das unzivilisierte Verhalten des Mannes auf der Straße stand dabei für die Rückständigkeit Spaniens insgesamt. Nur angedeutet wird, dass die Vorliebe der Spanier für gotteslästerliches Reden tief in der vormodernen christlichen Kultur auf der Iberischen Halbinsel wurzelt. Vor diesem Hintergrund sind Anti-Blasphemie-Kampagnen zu verstehen wie jene im Mai 1909 in Madrid, mittels derer der öffentliche Raum in einem Akt von »aural hygiene« von der blasphemischen Unmoral gesäubert werden sollte. Ganz anders die Konstellation in der Semana Trágica in Barcelona zwei Monate später: Im Zuge von blutigen Arbeiterstreiks gegen die massenhaften Einberufungsbescheide von Reservisten für den Marokkokrieg, die von Radikalrepublikanern angeführt wurden, kam es zu heftigen antiklerikalen Ausschreitungen, bei denen gotteslästerliches Reden die Entweihung und Zerstörung von Kirchen begleiteten.

Gleichsam als Radikalisierung dieses Szenarios liest sich die Studie von Julio de la Cueva über die Rolle von Gotteslästerung im spanischen Bürgerkrieg von 1936, speziell in der Provinz Toledo. In der Polarisierung des Bürgerkrieges mit seinem hohen Blutzoll auf beiden Seiten kam es von republikanischer Seite zu heftigen antiklerikalen Exzessen: Tausende von Priestern und Ordensleuten wurden ermordet, Gotteshäuser rituell verwüstet und entweiht. Gotteslästerungen gehörten zur steten Begleitmusik des Martyriums der Geistlichen, ebenso wie der Versuch, die Gequälten ihrerseits zu blasphemischen Äußerungen zu zwingen. Das Alltagsphänomen Blasphemie habe sich in dieser Zeit gleichsam zu einem »revolutionären Passwort« transformiert.

Zwei weitere Texte zentrieren auf kulturelle Konflikte im bzw. mit dem Islam. Laura Thomson beschäftigt sich mit zwei außergewöhnlichen (und außergewöhnlich gut dokumentierten) Gotteslästerungsfällen im Tunis des 19. bzw. beginnenden 20. Jahrhunderts, um dann den Bogen zu Blasphemiefällen jüngeren Datums bzw. zum Diskurs über Hassreden in der westlichen Welt zu schlagen: Noch unter osmanischer Herrschaft wurde der jüdische Fuhrmann Batto Sfez 1857 zum Tode verurteilt, weil er (wohl betrunken) auf offener Straße den Islam verflucht haben soll. Trotz der Intervention vieler europäischer Gesandter wurde das Urteil auf grausame Weise vollstreckt. 1904 wurde der junge Intellektuelle Abdelaziz Thâalbi unter französischem Protektorat wegen seiner rationalistisch-spöttischen Verurteilung des Koran von einem Shariah-Gericht ebenfalls mit der Todesstrafe belegt, dann aber auf Initiative eines Kolonialbeamten vor ein anderes Gericht gezogen und zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.

Mit der Rushdie-Affäre um den Roman Die Satanischen Verse und Ajatollah Khomeinis Mordaufruf gegen den Autor vom Februar 1989 rückt Manfred Sing das zentrale Paradigma für die globalen Blasphemiekonflikte der Gegenwart ins Zentrum seiner Darstellung. Im Zuge dieses Konfliktes verfestigte sich die globale Polarisierung: Auf der einen Seite stand »der« säkulare »Westen«, der sich selbst als Verteidiger der Meinungsfreiheit sah, von der Gegenseite aber als kolonialer Unterdrücker wahrgenommen wurde; auf der anderen Seite positionierten Wortführer der Muslime ihre Gemeinschaft als unterdrückte Minorität, während sie von der Gegenseite als fundamentalistische Zeloten kritisiert wurden. Sing setzt sich scharfsinnig mit einigen seiner Meinung nach zu kurz greifenden Interpretationen der Affäre auseinander und konzentriert sich dann auf die zentralen Texte. Der gotteslästerliche Gehalt von Rushdies Roman sei, so der Autor, vor dem Hintergrund der islamischen Religionsgeschichte keineswegs so eindeutig wie oft behauptet. Überdies stehe die Rechtsqualität von Khomeinis Mordaufruf als »Fatwa« gemäß islamischem Recht in Frage. Sing deutet ihn eher funktionalistisch als Überwindung einer zunehmenden Legitimitätskrise des iranischen Mullah-Regimes Ende der 1980er-Jahre.

Der letzte Beitrag von Marcin Składanowski führt nach Russland. Er analysiert in seinem Text den Fall des russischen Bloggers Ruslan Sokolovskiy, der 2016 in der Heilig-Blut-Kathedrale von Jekaterinburg auf Pokémon-Jagd gegangen war und in seinen Posts u. a. geäußert hatte, Jesus sei das kostbarste Pokémon – allerdings habe er dieses in der Kirche nicht gefunden. Wegen »Verletzung der religiösen Gefühle von Gläubigen« (ein Passus, der nach der Pussy-Riot-Affäre von 2012 neu ins Strafgesetz aufgenommen worden war) wurde Sokolovskiy später zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Der Aktion fehlte ursprünglich jegliches politische Motiv, aber die harsche Reaktion des Staates zeigt die immer engere Verbindung der orthodoxen Kirche mit der staatlichen Macht in Russland.

Insgesamt handelt es sich durchweg um interessante Beiträge mit erhellenden Fallstudien. En passant geben sie komprimierte Informationen über die Entwicklung der Blasphemiegesetzgebung in den jeweiligen Ländern. Offenkundig sind auch die Schnittmengen der Blasphemie mit anderen verwandten Tatbeständen, insbesondere mit dem Sakrileg, zu dem es kaum systematische Untersuchungen gibt. In Bezug auf den analytischen Rahmen vermag der Band indes nur teilweise zu überzeugen. Die Konzepte von Norbert Elias und Michel Foucault, die David Nash in den Mittelpunkt seiner »Conclusion« stellt, helfen hier m. E. kaum weiter. Das gilt auch für feinsinnige Unterscheidungen wie diejenige zwischen »blasphemous« und »blasphemic« (34) oder zwischen Gotteslästerung als (reinem) Sprechakt und Sakrilegien als physische Taten. Einige Beiträge tendieren dazu, das blasphemische Sprechen zu essentialisieren. Dabei handelt es sich bei der Etikettierung von Worten (oder bisweilen auch Taten) als »Gotteslästerung« bis in die jüngste Vergangenheit hinein in der weit überwiegenden Zahl von Fällen um eine gegnerische Zuschreibung, mit der die Herabwürdigung geheiligter Personen oder Werte stigmatisiert werden sollte. Diese Etikettierung besitzt starke gruppenbildende Kraft und funktioniert, in der jüngeren Vergangenheit so intensiv wie in früheren Jahrhunderten, als Identitätsgenerator. Die konzeptuelle Debatte kann und soll an dieser Stelle nicht vertieft werden.2 Sie muss aber geführt werden, wenn die Geschichte der Blasphemie nicht in einer allgemeinen Geschichte des Freidenkertums und des religionskritischen Denkens aufgehen soll, eine Tendenz, für die beispielhaft der m. E. problematische Obertitel des Bandes steht. Nur in einem angemessenen analytischen Rahmen können die allesamt weiterführenden Fallstudien des Bandes systematisch wirklich fruchtbar gemacht werden.

1 Vgl. zuletzt Acts Against God. A Short History of Blasphemy, London 2020.
2 Vgl. dafür Gerd Schwerhoff, Verfluchte Götter. Die Geschichte der Blasphemie, Frankfurt/M. 2021, S. 12–13.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gerd Schwerhoff, Rezension von/compte rendu de: Eveline G. Bouwers, David Nash (Hg.), Demystifying the Sacred. Blasphemy and Violence from the French Revolution to Today, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2022, 313 p., 20 Abb. (New Perspectives on the History of Liberalism and Freethought, 2), ISBN 978-3-11-071302-2, EUR 51,95., in: Francia-Recensio 2024/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.105192