Die Ambivalenz zwischen der Standesgemäßheit adeligen Verhaltens und Handelns in der Frühen Neuzeit einerseits und den wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Adels andererseits beschäftigte schon die Zeitgenossen. Sie geht letztlich auf die Kaufmannschaft zurück, die die potente adelige Konkurrenz fürchtete und durch entsprechende ‚Berufsbeschränkungen‘ ausschalten wollte. Diesem Spannungsfeld haben Annette Cremer und Alexander Jendorff zu Ehren Horst Carls einen Tagungsband gewidmet, in dem europäische Beispiele für unterschiedliche Betätigungsfelder hoch- und niederadliger Männer und Frauen zwischen 1600 und 1900 zusammengetragen werden.
So disparat die beiden Begriffe Adel und Wirtschaftsengagement auf den ersten Blick scheinen, so eng gehören sie doch im Prinzip zusammen: Adel verpflichtete gerade dazu, sich kommerziell zu betätigen, wenn nicht unternehmerisch, dann doch mindestens als Konsument exquisiter Güter; repräsentative Verpflichtungen kosteten Geld, das im besten Fall zuvor verdient sein wollte. Dafür reichten die Einkünfte des frühneuzeitlichen Adels, wenn sich diese vor allem auf seine Renteinnahmen stützten, zunehmend weniger aus. »Der Adel bedurfte des ökonomischen Erfolgs zur materiellen Fundierung des sozialen Überlebens« (Jendorff, 18). Adelige waren daher gezwungen, sich unternehmerisch zu betätigen und sich innovative und profitable, dadurch aber auch risikobehaftete Einkommensquellen zu erschließen. Wie Alexander Jendorff in seiner Hinführung darlegt, wäre der exklusive Fokus auf Warenkonsum und -handel in seiner monetären Dimension allerdings weit verfehlt: Gerade beim Adel war Prestige als »eine wesentliche Kapitalie der ›Marktbeziehung‹ [...], das es funktional einzusetzen, aber eben auch auf- und stets auszubauen galt« (13), unbedingt in die Kalkulation einzubeziehen, denn erst in der Zusammenschau entschieden Solvenz und Status über einen weiteren zentralen Faktor: Kredit, und zwar in seiner materiellen wie seiner immateriellen Form, wobei, ganz im Sinne Bourdieus, »für den Adel kulturelles und soziales Kapital oft wichtiger war, als rein ökonomisches« (Ronald G. Asch, 81).
Aktives Wirtschaftshandeln galt dem Adel, so war es lange der Konsens, als »potentiell ehrbeschädigend und unangemessen« (Cremer, 28). Im vorludovizianischen Frankreich etwa riskierten Adlige, die ein Gewerbe betrieben, ihren Adelsstatus, anders in Italien, wo etwa (jüngere) Teile des genuesischen Adels im Großhandel und in Geldgeschäften reich wurden (s. Beitrag von Matthias Schnettger), während sich andere, auch altadelige italienische Unternehmer beispielsweise mittels großangelegter Trockenlegungsprojekte profilierten (Beitrag von Birgit Emich) und in Kooperation mit dem kurialen Kreditmakler gewaltige Summen umsetzten. Stefan Rohdewald erweitert die Perspektive um den osteuropäischen und transosmanischen Kontext, wo die Abgrenzung zwischen Adel und Kaufleuten schwerer fällt als im nordwestlichen Kontinentaleuropa.
Ökonomische Betätigung konnte dem adeligen Ansehen ebenso zu- wie abträglich sein, was nicht nur von wirtschaftlichem Erfolg und Misserfolg der Geschäfte abhing, wie die Beiträge eindrucksvoll unter Beweis stellen. Nicht allein der umfangreiche, im Landbesitz begründete Zugang zu Ressourcen wie Nutzflächen, Wasser, Holz, Arbeitskraft und Kredit, die für moderne, energie- und kostenintensive Technologien unabdingbar waren, sondern auch die für gewöhnlich hervorragende Bildung und Courtoisie seiner Mitglieder prädestinierte adelige Frauen und Männer ›von Welt‹ für ihr wirtschaftliches Engagement. Bettina Braun und Dieter Wunder stellen zwei weibliche Unternehmerinnen aus dem Hoch- und Niederadel vor, die in die Eisen- und Stahlproduktion einstiegen, die wiederum fundamental für die Waffenherstellung war. Diesem zweifelsfrei standesgemäßen, ja genuin adeligen Betätigungsfeld, dem militärischen Unternehmertum, widmen sich wiederum Michael Weise und Christoph Kampmann. Militär und Krieg waren nicht nur Katalysatoren für Reichtum und gesellschaftlichen Aufstieg in den bzw. innerhalb des Adels. Wie Kampmann am Konzept der Versicherheitlichung darlegt, war gerade die international ausgerichtete Truppenvermietung auf landesherrlicher Ebene eine zwar »kleine, aber wichtige Facette unternehmerischen Handelns des Hochadels in der Frühen Neuzeit« (341). Einem ebenfalls typisch hochadeligen Betätigungsfeld widmet sich Siegrid Westphal mit dem ernestinischen Herzog Wilhelm Heinrich von Sachsen-Eisenach, der sein Glück in der Einrichtung einer Klassenlotterie suchte. Er stellt damit ein klassisches Beispiel hochverschuldeter Reichsfürsten des 18. Jahrhunderts dar, die zu diesem riskanten Mittel griffen. Spektakulär mutet indes das völlig überdimensionierte südamerikanische Kolonialisierungsprojekt des Hanauer Grafen Friedrich Casimir an, das Alexander Jendorff vorstellt. Zwar lagen dem durch den renommierten Projektemacher Johann Joachim Becher professionell vermarkteten Vorhaben »nicht hochfliegende Visionen, sondern durchdachte Entwicklungskonzepte auf der Höhe der Zeit« (409) zugrunde; es scheiterte jedoch an zu geringem Investitionskapital und an der ablehnenden Haltung der Verwandtschaft. Bei derlei Unternehmungen des regierenden Adels schwingt neben vielen anderen Aspekten immer auch die Frage mit, ob es sich um private oder um klassische landesherrliche und somit dem Landesherrn oder der Landesherrin keineswegs abträgliche, sondern schlichtweg von ihm oder ihr im Sinne der Herrscherpflicht erwartete Wirtschaftsförderungen handelte – oder ob sie zumindest so dargestellt werden sollten.
Generell zeichnen die Beiträge vor allem »ein beeindruckendes Panorama ökonomischen Scheiterns« (445) in all seinen Facetten, wie der durch den Band Geehrte resümierend feststellt. »Mammon und Decorum«, so bringt es Horst Carl auf den Punkt, »sind schon deshalb kein Gegensatz, weil sie sich vielfach bedingen und das eine ja oft eine Voraussetzung des anderen ist« (445). Deshalb kann es auch kaum verwundern, dass »adeliges ›Ökonomisieren‹ auf vielen, genau genommen auf allen Feldern der vormodernen Wirtschaft eine Selbstverständlichkeit« (448) war. Zudem konnten Adlige die Konsequenzen ihrer Misserfolge – und diese Aussicht mag solche Vorhaben aus dem Hochrisikobereich womöglich zusätzlich begünstigt haben – auf Dritte abwälzen, zum Beispiel auf zukünftige Generationen (s. Beiträge von Emich und Asch).
Die Omnipräsenz adeligen Wirtschaftshandelns demonstriert der vorliegende Band, in dem arrivierte Historikerinnen und Historiker Ergebnisse aus der Mitte ihrer genuinen Forschungsfelder bieten und diese mit dem Thema des Bandes auf hervorragende Art und Weise verknüpfen. Als zentrales Desiderat für künftige Forschungen wird darin die Notwendigkeit einer intensiveren und systematischen Auswertung der Archive der ausgesprochen heterogenen Gruppe des Adels formuliert, um die bislang eher sozialhistorisch ausgerichtete Adelsforschung um die wichtige ökonomische Komponente zu erweitern und der Vielfalt des unternehmerischen Engagements adliger Männer und Frauen gerecht zu werden. Dazu gehört im Übrigen auch die wichtige Funktion des Adels als Kreditgeber, nicht zuletzt für die Krone – ein Aspekt, der im Band anklingt (Asch), über den man aber gerne noch mehr erfahren möchte, ebenso wie über die schillernden Figuren der Projektemacher nach dem Format eines Johann Joachim Becher, die im 17. und 18. Jahrhundert, mit ihren erstaunlichen Kontakten, ihrem Wissen und ihrem Gespür für den richtigen Medieneinsatz, nahezu allgegenwärtig (oder doch zumindest mit erstaunlicher geografischer Mobilität) die merkantilistisch-unternehmerischen Pläne des deutschen Adels dirigierten. Für derlei weiterführende Forschungen bietet der Band hervorragende Grundlagen und Anreize.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Andreas Flurschütz da Cruz, Rezension von/compte rendu de: Annette C. Cremer, Alexander Jendorff (Hg.), Decorum und Mammon im Widerstreit? Adeliges Wirtschaftshandeln zwischen Standesprofilen, Profitstreben und ökonomischer Notwendigkeit, Heidelberg (Heidelberg University Publishing) 2022, 464 S. (Höfische Kultur interdisziplinär, 4), ISBN 978-3-96822-069-7, EUR 59,90., in: Francia-Recensio 2024/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.105196