Die französische Historikerin Laurence Fontaine hat über die letzten Jahrzehnte mehrere Werke vorgelegt, die die Überlebensstrategien der classes populaires im vorindustriellen Europa aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten, so eine Geschichte des Hausierhandels (1993), eine Geschichte der Arbeitswanderungen in den Westalpen (2003), eine Geschichte des Kredits im Kontext der frühneuzeitlichen »moralischen Ökonomie« (2008) sowie eine Geschichte des Markts (2014). All diese Motive spielen auch in ihrem neuen Buch zur Armut in der Aufklärungsepoche eine zentrale Rolle. Obgleich in einer Reihe erschienen, die der Pflege des Essay-Genres gewidmet ist, handelt es sich um eine ausgewachsene Monografie, die weder umfangmäßig noch stilistisch die Merkmale aufweist, die man gewöhnlich mit jener Textgattung assoziiert. Nur das letzte Kapitel, das die im Untertitel angedeuteten Lehren für die Gegenwart zu bilanzieren versucht, hat etwas Essayistisches.

Nach einem kurzen Vorwort zerfällt das Buch in zwei große Teile. Der erste Teil spannt ein weites Panorama der harten Lebensrealitäten am unteren Rand der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft auf. Er ist wiederum in drei Hauptkapitel gegliedert. Das erste beschreibt Armut als allgegenwärtiges Risiko für das Gros der Menschen, die bei jeder persönlichen oder konjunkturellen Krise ihre fragile Existenzgrundlage zu verlieren drohten. Das zweite handelt von Armut als drückendem Zustand derer, die jene Grundlage verloren oder gar nie hatten, und das dritte von Armut als Exklusion, die leicht zu Kriminalität, Vagabondage, Prostitution und dem Zerbrechen von Familien führen konnte. Dieser Teil basiert ausschließlich auf Forschungsliteratur. Der Schwerpunkt liegt auf Frankreich, doch werden auch Befunde insbesondere zu Großbritannien, gelegentlich zu den Niederlanden, Spanien und Italien, kaum indes zum deutschsprachigen Raum einbezogen. Dabei vergleicht Fontaine nur selten explizit: Staatliche Rahmenbedingungen stehen ebenso wenig im Vordergrund wie zeitlicher Wandel. Vielmehr zeichnet sie ein facettenreiches Bild der relativ konstanten Erfahrungen einfacher Leute im täglichen Kampf mit existentieller Unsicherheit. Wichtig sind ihr jedoch statusabhängige Erfahrungsunterschiede innerhalb der unteren Volksklassen, in erster Linie diejenigen nach Geschlecht: Die systematische Benachteiligung von Frauen ist ein roter Faden, der das Buch durchzieht. Methodisches Kernanliegen des ersten Teils ist es, Armutsbetroffene als Individuen sichtbar zu machen, die ihre beschränkten Optionen unter widrigen Bedingungen kreativ zu nutzen versuchten. Hierzu verwendet Fontaine die Forschungsliteratur gewissermaßen als Steinbruch, aus dem sie möglichst viele biografische Skizzen und Selbstäußerungen zusammenträgt. Das Ergebnis belegt, dass ihre im Vorwort geäußerte Kritik an »den Historikern« (10), die Armut nur als statistische Größe oder im Sinne abstrakter Kollektive begreifen würden, so nicht mehr zutrifft. Ganz im Gegenteil demonstriert dieser Teil des Buchs, wie viel wir dank der Bemühungen zahlreicher Historiker und Historikerinnen mittlerweile über die Dynamiken des »arm Lebens« im frühneuzeitlichen Europa wissen.

Der zweite, längere Teil kehrt die Perspektive um, indem er die Anschauungen der Eliten des ausgehenden Ancien Régime über das Problem der Armut in den Fokus rückt. Er basiert auf einem kompakten archivalischen Quellenkorpus, nämlich den rund 125 Einsendungen auf die Preisfrage, die die Akademie von Châlons-sur-Marne im Jahr 1777 der interessierten Öffentlichkeit stellte. Erbeten waren Reflexionen über die Mittel zur Beseitigung der Bettelei mit der Spezifikation, dass diese die Bettler für den Staat nützlich, nicht aber unglücklich machen sollten (»utiles à l’État sans les rendre malheureux«). Nach ein paar einleitenden Worten zum zeittypischen Medium der akademischen Preisfragen und zum Teilnehmerkreis am Wettbewerb von 1777, präsentiert Fontaine die eingesandten Abhandlungen entlang thematischer Leitmotive. Wie beurteilten die Verfasser – unter ihnen nur eine Frau, die sich als solche zu erkennen gab – die herrschende extreme soziale Ungleichheit; wo lokalisierten sie die Schuld an Elend und Bettelei; was hielten sie von etablierten Instrumenten des Einsperrens und Strafens; welche Vorschläge machten sie zur Beförderung von Verdienstmöglichkeiten und Arbeitsfleiß; inwieweit zeigten sie Verständnis für die besonders vulnerable Lage von Frauen, Kindern, Alten und Invaliden; und schließlich: was wussten sie bezüglich des Glücks und der Ehre der Armen zu sagen? Zuweilen reichert Fontaine die thematischen Abschnitte mit knappen Kontextinformationen an, etwa zur staatlichen Armenpolitik der vorangegangenen Jahrzehnte oder zu den Maßnahmen, die das Bettelkomitee der frühen Revolutionszeit ins Auge fassen sollte. Zuweilen streut sie auch kleine Exkurse ein, beispielsweise zum Denken zeitgenössischer Geistesgrößen wie des Schriftstellers Marivaux oder des Enzyklopädisten Diderot. In der Hauptsache aber legt der zweite Teil des Buchs – oft wörtlich zitierend oder paraphrasierend und nur erstaunlich zurückhaltend kommentierend – sehr detailliert die Ausführungen der Wettbewerbsteilnehmer dar.

Ein Vorwurf, den Fontaine wiederholt durchblicken lässt, ist, dass der Akademiedirektor in der Publikation, die er aus den Einsendungen kompilierte, deren breites Meinungsspektrum verengt und radikalere Positionen unterschlagen habe. Doch fördert ihre Auswertung der Originale insgesamt wenig Umstürzlerisches zutage. Auch diejenigen Autoren, die aufklärerische Freiheits- und Gleichheitsideale hochhielten, bewegten sich weitestgehend im Rahmen des zeitgenössisch Sagbaren, und trotz dezidierter Kritik an der ungerechten Behandlung unschuldiger Armer mochte kaum jemand auf drakonische Zwangsmittel gegenüber renitenten Bettlern verzichten. Welche Lehren lassen sich also aus dieser Geschichte für die Gegenwart ziehen? Das Schlusskapitel, das Überlegungen hierzu verspricht, hinterlässt einen ambivalenten Eindruck. Fontaine verweist auf nach wie vor aktuelle Ursachen von Armut und auf die multiplen Strategien, die Betroffene noch immer entwickeln müssen, um über die Runden zu kommen. Sie beklagt die anhaltende moralische Stigmatisierung von Armut, ebenso wie den anhaltenden Nexus von Reichtum und Macht, der nicht zuletzt in der Philanthropie zum Ausdruck komme. Sie skizziert einige in ihren Augen vielversprechende Sozialprojekte, und sie unterstreicht ihre Sympathie für den Denkansatz von Amartya Sen, der die praktische Befähigung der Menschen zu einem selbstbestimmten Leben ins Zentrum einer zukunftsweisenden Politik stellt. Doch wirken die Schlussbetrachtungen zu sprunghaft und die suggerierten Verbindungslinien zwischen den Epochen zu kurzgeschlossen, um einzuleuchten. Lesenswert ist dieses anregende Buch nichtsdestotrotz.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Beate Althammer, Rezension von/compte rendu de: Laurence Fontaine, Vivre pauvre. Quelques enseignements tirés de l’Europe des Lumières, Paris (Gallimard) 2022, 512 p. (Collection NRF Essais), ISBN 978-2-07-295338-5, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.105199