Auseinandersetzungen zum Thema Religion und ihrer gesellschaftliche Relevanz stehen gestern wie heute im Fokus der Aufmerksamkeit: Das interreligiöse Zusammenleben in (post-)migrantischen Gesellschaften stellt die Politik immer wieder vor Herausforderungen. Ein wichtiges Medium der Aushandlungsprozesse über religiöse Fragen, wenn nicht sogar deren Mittelpunkt, ist dabei der Diskurs: das gemeinsame Reden über Ähnlichkeiten und Unterschiede sowie das Aushalten von Differenzen jenseits des Diskurses.

Die Autorin Jonna-Margarethe Mäder, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum, nimmt diese Problematik in ihrer Studie zum Ausgangspunkt einer vertieften Analyse über die Möglichkeiten und Grenzen, über Religion zu reden – versehen mit einem Fragezeichen im Titel (Reden über Religion?) deutet sie dabei gleich zu Beginn auf die Schwierigkeiten dieses komplexen Unterfangens hin. Untersucht wird die Fragestellung anhand vier frühneuzeitlicher jüdischer Autoren aus unterschiedlichen mitteleuropäischen Regionen: Der elsässische Rabbiner Josel von Rosheim (1476–1554), Fürsprecher der Juden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, der im segregierten Armenviertel der Republik Venedig lebende und wirkende Rabbiner Simone Luzzatto (1582–1663), der aus dem iberisch-marranischen Judentum stammende und in Amsterdam wirkende Rabbiner Menasse ben Israel (1604–1657) sowie Jakob Emden (1697–1776), ein im norddeutschen Raum tätiger Gelehrter und Rabbiner, der Positionen des traditionellen Judentums im Zeitalter der Aufklärung (u. a. in Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn) vertrat. Allen vier ist zu eigen, dass sie sich durch ihre jeweiligen Schriften nicht nur als namhafte Größen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ihrer Zeit auszeichneten, sondern sich insbesondere auch als Vertreter jüdischer Interessen im Austausch und in Auseinandersetzung mit bedeutenden christlichen Autoritäten in Politik und Gesellschaft einen Namen machten. Wie sie dabei im Einzelnen vorgingen und in welcher Weise sie den argumentativen Diskurs ihrer Schriften mit der Thematik der jüdischen Glaubenszugehörigkeit und -praxis verbanden, ist Gegenstand der vielschichtigen Analyse Jonna-Margarethe Mäders.

Was sich bei manchen wissenschaftlichen Arbeiten eher als Nachteil erweist, nämlich die ursprüngliche Abfassung als akademische Abschlussarbeit (in diesem Fall einer Dissertationsschrift), wird bei der vorliegenden Studie zu einem klaren Vorteil: Der umfassende Einbezug von Quellen und internationaler Sekundärliteratur, aber auch ein schlüssiger und überzeugender methodischer Ansatz zeichnen die Arbeit aus. Unter Rückgriff auf das von Gérard Genette entwickelte erzähltheoretische Modell sowie den von Robert M. Entman entworfenen Framing-Ansatz werden die Quellen der oben genannten Autoren analysiert und miteinander verglichen. Dabei geht Jonna-Margarethe Mäder sehr strukturiert vor: Nach einem einleitenden ersten Teil, der nicht nur die Fragestellung formuliert, sondern auch den Forschungsstand, die Quellenauswahl und das methodische Vorgehen erläutert, werden im zweiten und dritten Teil jeweils zwei der genannten Autoren gegenübergestellt (Josel von Rosheim und Simone Luzzatto im zweiten Teil sowie Menasse ben Israel und Jakob Emden im dritten Teil). Die gewählten Argumentationsweisen und argumentativen Muster der Autoren werden dabei mit Hilfe der erwähnten methodischen Ansätze untersucht. Im abschließenden vierten Teil wird eine Schlussbetrachtung und eine Zusammenführung der Ergebnisse präsentiert, die zum einen den Befund des vorhergehenden Zwischenfazits (143–145) rekapitulieren, zum anderen aber erweitern und in einen breiteren historischen und geistesgeschichtlichen Kontext einbetten. Die leitende Fragestellung der Untersuchung ist dabei, ob und wie die vier untersuchten Autoren trotz ihrer im Einzelnen jeweils unterschiedlichen Themen, dennoch im Ganzen gesehen »vergleichbare Argumentationsstrukturen und -logiken verwenden, um die christlichen Funktionsträger und eine interessierte Öffentlichkeit handlungsorientiert zu adressieren« (6).

Die Untersuchung arbeitet dabei schlüssig heraus, dass die untersuchten Schriften der Autoren jeweils eine Teilhabe an zwei unterschiedlichen Diskursen auszeichnen: zum einen die Auseinandersetzung mit dem Problem antijüdischer Polemik, zum anderen die handlungsorientierte Ansprache an die Obrigkeit im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Verbesserung. Betrifft der erste Aspekt lediglich die zahlenmäßig kleine jüdische Gemeinschaft, so adressiert der zweite die gesamte Gesellschaft. Die Studie zeigt darüber hinaus auf, dass mit »der argumentativen Partizipation an zwei Diskursen und der Definition dieser Tatsache als gezielte Kommunikationsstrategie« nicht eine Trennung von zwei eigenständigen diskursiven Teilen einhergeht. Vielmehr sind die beiden Diskurse, wenn auch verschieden, inhaltlich einander ergänzend und komplementär. Es wird gezeigt, dass der Fokus der Autoren darin liegt, jeweils argumentativ die »Vereinbarkeit von Gesellschaftszugehörigkeit und Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde herauszustellen« (144–145). Zugleich jedoch unterstreichen die jüdischen Autoren, dass der Glaube an sich nicht zur Disposition steht und somit »Glaubensgrundlagen nicht zum Gegenstand disputativer Auseinandersetzungen werden dürfen« (145).

Die gewählten Argumentationsweisen der vier frühneuzeitlichen jüdischen Autoren weisen insofern auch voraus auf die Argumentationsweisen jüdischer Autoren im 18. und 19. Jahrhundert. Auch hier wird, wie die Arbeit abschließend unterstreicht, die »Vereinbarkeit von jüdischer Glaubenszugehörigkeit und bürgerlicher Partizipation« (S. 268, Anm. 756) hervorgehoben. Dies zeigt sich u. a. bei Denkern wie Théodore und Salomon Reinach und ihren Stellungnahmen im Kontext der Dreyfus-Affäre, aber auch bereits bei Moses Mendelssohn sowie bei nichtjüdischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts, wie z. B. in Christian Wilhelm von Dohms Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/1783), deren utilitaristische und anthropologische Argumentationsweise – »Der Jude ist noch mehr Mensch als Jude (…)« (kursiv von der Verf.) – sich nicht als Apologie des Judentums verstand, sondern lediglich als Sammlung von Vorschlägen zu einer gesamtgesellschaftlichen Verbesserung (wie bereits im Titel anklingt). Jonna-Margarethe Mäder gelingt es, trotz der bereits gut erforschten Quellenlage zu den analysierten Texten, unter dem Aspekt ihrer gewählten Fragestellung und in der Gegenüberstellung und Analyse der jeweiligen Argumentationsweisen der vier Autoren, neue Perspektiven sowie interessante diskursive Ähnlichkeiten aufzuzeigen.

Einziger kleiner Wermutstropfen, der sich an dieser Stelle erwähnen lässt, ist an einigen Stellen der Wechsel zwischen zwei Sprachen innerhalb eines Satzes (vom Deutschen zum Englischen), der die Lesbarkeit des Textes zugunsten des Einschubes eines englischen Zitates beeinträchtigt (vgl. u. a. S. 88, 114, 184, 197). Im Hinblick auf eine bessere und flüssigere Lesbarkeit wäre zu überlegen gewesen, ob man die englischen Einschübe nicht durch Übersetzungen bzw. wortgetreue deutsche Paraphasen im Fließtext hätte ersetzen können und die englischen Zitate nicht besser in die Fußnote gestellt hätte. Dies betrifft jedoch lediglich ein (eher ästhetisches) Detail der Lesbarkeit und schmälert die inhaltliche und argumentative Stärke der Untersuchung keineswegs.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jonna-Margarethe Mäders Arbeit die Spannbreite der behandelten Themen, die sich in den Texten der vier Autoren finden lassen, am Ende der Lektüre fruchtbar widerspiegelt: Das Buch ist somit weit mehr als »nur« ein Band über Gemeinsamkeiten und Differenzen der Argumentationsweisen frühneuzeitlicher jüdischer Autoren, sondern eröffnet neue und für die Forschung innovative Reflexionen auf den Austausch und die kritische Beziehung der untersuchten Rabbiner mit der jüdischen Gemeinde und der politischen Obrigkeit. Der komplexe argumentative Spagat, der dabei im Einzelnen von den vier Protagonisten zu leisten war, zwischen ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Minorität einerseits und der Teilhabe an der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft andererseits, wird dabei eindrucksvoll deutlich.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Silvia Richter, Rezension von/compte rendu de: Jonna-Margarethe Mäder, Reden über Religion? Handlungsorientierte Argumentationsstrategien frühneuzeitlicher jüdischer Autoren, Baden-Baden (Tectum Verlag) 2022, 306 S., ISBN 978-3-8288-4823-8, EUR 64,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.105205