Beinahe einhundert Jahre nach Erscheinen der letzten Geschichte der Juden in Frankfurt a. M.1 des Frankfurter Historikers Isidor Kracauer wagt Wolfgang Treue in Judengasse und christliche Stadt erneut das Vorhaben, die Geschichte der frühneuzeitlichen jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main im Überblick darzustellen. Auf Basis der im Frankfurter Stadtarchiv umfangreich erhaltenen Quellenbestände der frühneuzeitlichen Frankfurter Stadtverwaltung fokussiert Treue dabei auf die Zeit des Frankfurter jüdischen Gettos von dessen Errichtung 1462 bis zur offiziellen Auflösung 1811. Dabei beschreibt er die religiöse, ökonomische, politische und soziale Einbettung der jüdischen Gemeinde in die lokale Stadtgesellschaft ebenso wie ihr strukturelles Profil, wie es sich vorwiegend aus institutioneller Perspektive darbietet.

Treue wählt eine Verschränkung von thematischer und chronologischer Erzählung in zwölf Kapiteln als narrativen Modus. Die Chronologie von Reformation bis Aufklärung rahmt die Monografie und lenkt innerhalb der Kapitel die thematischen Stränge. Detaildichte und quellennahe Erzählung, die mit einem chronologischen, Lücken vermeidenden Ansatz oft einhergehen, dominieren mitunter den Leseeindruck und lassen wenig Raum für eine übergreifende Interpretation des Autors vor dem abschließenden Fazit des Buches. Die Kapitel sind von ausgewogener Länge zwischen ca. 30–40 Seiten mit Ausnahme von Kernkapitel sieben, von dem noch die Rede sein soll. Nach einem kurzen Überblick über die räumliche Entwicklung der Judengasse in Kapitel 1, beschäftigen sich Kapitel 3–5 mit der zunehmenden obrigkeitlichen Regulierung jüdischen Lebens, die nach Treue sowohl Bürde als auch Schutz darstellte. Kapitel 7–9 beschreiben die Alltagszenarien des städtischen Miteinanders als konstruktive Kontaktzonen von Frankfurter Juden und Nichtjuden. Kapitel 9–12 stellen dem die sich zugleich verschärfenden Konfliktkonstellationen im Zeichen der beginnenden Aufklärungs- und Emanzipationsdebatte entgegen.

Als Interpretationsrahmen wählt Treue ein »Miteinander-Nebeneinander-Gegeneinander«-Modell, das, obgleich theoretisch vage, besonders gut die Gleichzeitigkeit von Widersprüchlichkeiten herausarbeitet. Treue bleibt dabei dem (Ver)Diktum der Parallelgesellschaft (58) verhaftet, das als soziologischer Begriff dem Kontext von Migration entlehnt ist, wenngleich dies der alteingesessenen jüdischen Gemeinde von Frankfurt kaum gerecht wird. Der frühneuzeitlichen Zuschreibung des »Anderen« und »Fremden« sollte nicht retrospektiv analytisch aufgesessen werden, sie kann aber als kommunikative Strategie entschlüsselt und demontiert werden. Das tut Treue de facto auch, indem er mit Hunderten von Quellenbeispielen aufzeigt, dass die Frankfurter Juden als Gemeinde und als Individuen über Jahrhunderte hinweg ein integraler und keineswegs fremder oder paralleler Teil der Frankfurt Stadtgesellschaft waren und diese Positionierung selbstbewusst einforderten. Die Distinktionskategorie des »Fremden« und »Anderen« im öffentlichen, institutionellen und innergemeindlichen Diskurs wurde hingegen erwartungsgemäß in ökonomischen und politischen Krisen- und Transformationsperioden beiderseits je nach Bedarf aktiviert, wie Treue besonders eindrücklich am Beispiel der jüdischen Armenpolitik zeigt (Kapitel 4 und 5).

Als besonders innovativ seien Kapitel 3 »Stadt der Gruppen, Stadt der Religionen« und Kapitel 7 »Miteinander-nebeneinander-gegeneinander: Alltägliche Kontakte« hervorgehoben. Kapitel 3 kontextualisiert die Wahrnehmung und obrigkeitliche Regulierung der Frankfurter Juden im Vergleich mit anderen sozialen und religiösen Gruppen in Frankfurt, die Marginalisierungserfahrungen mit ihnen teilten. Insbesondere Frankfurter Katholiken, aber auch nicht-lutherische protestantische Einwanderer aus den Niederlanden (Wallonen), England, Frankreich (Hugenotten) und Salzburg, italienische Händler und ehemalige osmanische Söldner mussten ihren Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie mit Stadtregierung und städtischen Gruppen aushandeln. Treue kann überzeugend zeigen, wie die häufiger werdenden Konversionen zur lutherischen »Staatsreligion« im Verlauf der Frühen Neuzeit von der städtischen Obrigkeit zunehmend als soziale Strategie wahrgenommen, abgelehnt, und pönalisiert wurden. Interessant wäre dabei auch die Frage gewesen, ob die Wahrnehmung der verschiedenen Einwanderungsgruppen als »fremde Nationen« die parallele Darstellung von Frankfurter Juden als Fremde begünstigte.

Die Integration von Realia oder, der nun gängigere Begriff, materieller Kultur zeichnet das alltagsgeschichtliche und mit über 50 Seiten umfangreichste Kapitel 7 aus. Treue benutzt hier gezielt Artefakte aus dem Bestand des jüdischen Museums Frankfurt wie Gemälde, Ritualgegenstände und Pessach Haggadot, um die intensive kulturelle Verflechtung der Frankfurter jüdischen Gemeinde mit ihrem sozialen Umfeld aufzuzeigen, die zur Ausbildung ganz spezifischer Frankfurter jüdischer Kunst und Liturgie führte. In Kombination mit überlieferten städtischen Ratsakten und den von Dietrich Andernacht edierten Aktenregesten2 kann er dabei aufzeigen, wie vielfältig die Kontakte, Geschäfte, Kooperationen ebenso wie Auseinandersetzungen zwischen Juden und Nichtjuden in Frankfurt waren und wie umfänglich und konstant sie alle Beteiligten prägten.

Archivalische Gegenüberlieferungen außerhalb von Frankfurt bezieht Treue dabei leider nur in Ansätzen mit ein, was insbesondere im Fall der reichsgerichtlichen Institutionen einen blinden Fleck der Studie ausmacht. Gerade weil Treue die Dreiecksbeziehung zwischen jüdischer Gemeinde, Stadt und Kaiser als Grundkonstante frühneuzeitlicher jüdischer Existenz in Frankfurt herausstellt, kann das Fehlen dieser Quellen interpretatorisch kaum kompensiert werden. Zwar enthält die Frankfurter Überlieferung vielfach die städtischen Prozessschriften von Verfahren am Reichshofrat und Reichskammergericht, sie spiegelt jedoch weder die jüdische noch die reichsgerichtliche Perspektive. Treue findet sich hier in derselben Position wie einst Kracauer, der die Wiener und Wetzlarer Akten ebenfalls nicht in seine Forschungen miteinbezog und damit die Dreieckskommunikation höchstens umschreiben, nicht aber analysieren konnte. Digitalisierte Quellenbestände und einschlägige Sekundärliteratur werden dies in Zukunft sicherlich einfacher machen.

Ebenso suchte die Rezensentin vergeblich nach einer historiografischen Einordnung und Positionierung des Autors. Die umfangreichen Forschungen zur jüdischen Gemeinde in Frankfurt des letzten Jahrzehnts finden sich zwar in der Bibliografie, kaum aber im Fließtext des Buches wieder. Das ist umso überraschender, als die archivalischen Quellen minutiös referenziert werden. Die fehlende fachliche Auseinandersetzung mit den – auf dieselben Quellenbestände und Zeitperiode rekurrierenden – Studien von Cilli Kasper-Holtkotte3 und Andreas Gotzmann4 bildet eine auffallende Lücke. Auch das Fehlen eines Index bei einem Werk von 466 Seiten ist bedauerlich und wird vor allem die zielgerichtete Nutzung der Quellen durch andere Forscher behindern. Möglicherweise ist dies, ebenso wie die minimalisierte Sekundärliteratur in den Fußnoten, einer breiteren Lesepublikumsorientierung des Verlags geschuldet.

Dieser Kritik ungeachtet aber bietet Treues Buch einen hervorragenden und überfälligen modernisierten Überblick der Frankfurter frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte, der einem Fachpublikum die reiche jüdische Geschichte der Stadt nochmals konzise vor Augen führt und einem fachinteressierten Publikum komplexe und spannende Alltagsgeschichten aus der Frankfurter Judengasse eröffnet. Das Buch sei darum vor allem denjenigen empfohlen, die sich einen ersten quellennahen Einblick über Frankfurter Stadtgeschichte, Reichsgeschichte und jüdische Geschichte in Mitteleuropa verschaffen möchten.

1 Isidor Kracauer, Geschichte der Juden in Frankfurt am Main 1150–1824, 2 Bände, Frankfurt 1925, 1927.
2 Dietrich Andernacht, Regesten zur Geschichte der Juden in der Reichsstadt Frankfurt am Main 1401–1519, 3 Bde., Hannover 1996. Dietrich Andernacht, Regesten zur Geschichte der Juden in der Reichsstadt Frankfurt am Main 1520–1616, Aus den Nachlass hg. von Helga Andernacht u. a., 2 Bde., Hannover 2007.
3 Cilli Kasper-Holtkotte, Die jüdische Gemeinde von Frankfurt/Main in der frühen Neuzeit. Familien, Netzwerke und Konflikte eines jüdischen Zentrums, Berlin 2010.
4 Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit: Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, Göttingen 2008.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Verena Kasper-Marienberg, Rezension von/compte rendu de: Wolfgang Treue, Judengasse und christliche Stadt. Religion, Politik und Gesellschaft im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. (Campus Verlag) 2023, 466 S., ISBN 978-3-593-51675-2, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.105209