Die Anspielung auf Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften in André Burguières Buchtitel Les affinités sélectives (die Auswahlverwandtschaften) verdeutlicht gleich auf dem Titelblatt, dass das Werk nur bestimmte Bestandteile der französischen Historiografie des 20. Jahrhunderts unter die Lupe nimmt. Diese sind zwar signifikante Bestandteile, denn es handelt sich um die Historiker (und keine Historikerinnen), die die Annales-Schule antizipiert (Paul Lacombe), gegründet (Lucien Febvre und Marc Bloch), beeinflusst (Norbert Elias) und weiterentwickelt haben (u. a. Ernest Labrousse, Michel Vovelle, Philippe Ariès sowie Burguière selbst); sie bilden dennoch lediglich eine Auswahl, die weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf allgemeine Gültigkeit erhebt. Die gewählte Zusammensetzung der Annales-Autoren erklärt sich durch die intellektuelle Zugehörigkeit, die Burguière als Historiker von Anbeginn geprägt, die er wissenschaftlich kultiviert, mitgetragen und reflektiert hat: als Familien- und Bevölkerungshistoriker aus der Warte der historischen Ethnologie sowie als Mitglied der Annales-Redaktion von 1969 bis 1976 und directeur d’études an der École des hautes études en sciences sociales.

Darüber hinaus könnte der Titel als spielerischer Hinweis auf die Natur der Publikation gedeutet werden, die eine Zusammenstellung von Aufsätzen bildet, die zwischen 1978 und 2012 einzeln erschienen und hier in revidierter und überarbeiteter Fassung gebündelt vorliegen. Sie stellen daher Momentaufnahmen aus naher Vergangenheit dar, bei denen eine jeweilige Kontextualisierung und bibliografische Aktualisierung wünschenswert gewesen wäre. Auch fallen diverse Redundanzen und Wiederholungen – durch den Charakter des Werkes bedingt – auf, vor allem in den drei Kapiteln zu den Gründern der Annales – Febvre und Bloch – und in den drei Kapiteln zur Rezeption von Norbert Elias in Frankreich. Entsprechende Änderungen hätten eine signifikante Umschreibung bedeutet, was bei dieser Art von Zusammenstellung naturgemäß kaum zu leisten ist.

Deshalb sollen diese wenigen kritischen Anmerkungen keineswegs die Aussagekraft der gesammelten Aufsätze und deren wissenschaftlichen Wert infrage stellen; durch die neue Reihenfolge – und zwar nicht nach Erscheinungsdatum, sondern grob nach historischem Ablauf der behandelten Figuren – werden andere Akzente gesetzt und tauchen neue Fragestellungen auf.

Das Augenmerk gilt in diesem Buch der Geschichte en train de se faire, die dabei beobachtet wird, wie sie sich zu einer Gesellschaftswissenschaft entwickelt. Dementsprechend beginnt das Buch mit dem jüngsten Aufsatz (2012 erschienen) über den Historiker Paul Lacombe, den Burguière erst spät zum »Wegbereiter der Annales« aufgewertet hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts habe Lacombe einen innovativen Weg in der Erforschung von Gesellschaften eingeschlagen, indem er sich sowohl vom biologischen Determinismus der Rassentheorien als auch von der des Innatismus bezichtigten Völkerpsychologie distanziert habe. Mit seinem Vorschlag, geschichtliche Prozesse zu betrachten, die die Art und Weise des kollektiven Fühlens und Denkens dauernd verändern, habe Lacombe der Mentalitätsgeschichte den Weg bereitet.

Die darauffolgenden Kapitel über die Gründer der Annales und deren spätere Vertreter verdeutlichen, dass ihr Bestreben, die Geschichte zu einer Wissenschaft der sozialen Phänomene in ihrer historischen Veränderung zu erheben, weniger mit der Bestimmung des Forschungsobjekts zusammenhing als vielmehr mit der Erarbeitung der Methoden, die den Zugang zu der sozialen Dimension der Geschichte ermöglichen sollen. Dementsprechend legt Burguière dar, dass der Unterschied zwischen Febvre und Bloch ein methodischer war, was zu den unterschiedlichen Ansätzen der historischen Psychologie einerseits und der historischen Anthropologie andererseits führte. Während Febvre versuchte, Mentalitäten als die Verzahnung der intellektuellen und psychologischen Phänomene zu fassen, suchte Bloch sie hingegen in den mentalen Phänomenen, die sich am weitesten vom bewussten Denken entfernen sowie in den nicht intentionalen kollektiven Verhaltensweisen. In diesem Sinne wird das Labrousse-Moment als methodologische Wende zu einer statistisch-quantitativen Geschichte analysiert, die Ernest Labrousse, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Sorbonne, durchführte und in deren Sinne er eine große Schar von Studierenden und Doktoranden ausbildete. Eben die Ermüdung gegenüber diesem sozio-ökonomischen Modell bereitete laut Burguière den Nährboden für die (freilich verspätete) Rezeption von Norbert Elias in Frankreich in den 1970er-Jahren. Eliasʼ Vorstellung, der neuzeitliche Zivilisationsprozess bestehe in der wachsenden Rationalisierung und Selbstregulierung des menschlichen Verhaltens, was sich wiederum in den unbewussten Kulturäußerungen, etwa den Gewohnheiten, kundtue, fügte sich in die neue Richtung, die die zwei »Wahlverwandten« Philippe Ariès und Michel Foucault zur Erforschung der Mentalitäten bereits eingeschlagen hatten.

Einen besonderen Stellenwert in diesem parcours historiographique nimmt das Kapitel über die interdisziplinäre Untersuchung bzw. Erhebung der Einwohner des bretonischen Dorfs Plozévet ein, die 1961 begann und an der Burguière selbst sich in den 1970er-Jahren beteiligte. Es handelt sich hier um die Reflexion ex post (2005) über eine Untersuchung, die die Populationsgenetik mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen zu kombinieren versuchte, um die Auswirkungen von Modernisierungsprozessen im ländlichen Frankreich exemplarisch zu erkunden. Die Geschichte en train de se faire wird hier in doppelter Hinsicht zur Ethnologie: Zur Innenethnologie, indem die nouvelle histoire – und mit ihr Burguière – die colonies interieures1 als veränderungsresistente Inseln zum Objekt der historischen Untersuchung (wieder)entdecken; und zugleich zur epistemischen Ethnologie, indem das Untersuchungsdesign, die institutionellen Zwänge, die disziplinären Werte und Forschungsfragen zum Objekt der zeitlich versetzten Beobachtung werden. Allein die Analyse der Begegnung mit dem inneren »Anderen«, das zugleich auch das »Eigene« ist, kann als eine profunde Einführung in die epistemischen Herausforderungen der ethnologischen Arbeit gelesen werden.

Burguière bezeichnet sein Buch als historiografisches Werk. Das ist zu eng gefasst. Denn das Buch bietet gleichzeitig eine tiefgehende Reflexion über die Funktion und das Wesen der Geschichte an: des Öfteren in fragmentarischer Form durch Nebenbemerkungen, teilweise jedoch sehr explizit, etwa im 4. Kapitel über die politische Dimension von Marc Blochs Geschichtsschreiben (und -handeln!), im 5. Kapitel über das Verstehen in der Geschichtswissenschaft und im 11. und letzten Kapitel über Sartre und seinem Verhalten gegenüber Juden und Jüdinnen während des Vichy-Regimes. Burguières präsentistisches Verständnis der Geschichte, wonach diese erst durch die in der Gegenwart verwurzelte Fragestellung und das gegenwärtige Analyseninstrumentarium entsteht, unterscheidet er scharf vom judikativen Verständnis der Geschichte, das heutzutage die Geschichte erneut zum Weltgericht der Vergangenheit erhebt. Dies sei eine Konsequenz des herrschenden Zeitregimes mit seiner Entwertung der Zukunft: Dadurch gewinne die Vergangenheit derart an geradezu religiöser Dichte, dass sie uns dazu verpflichte, sich ihr gegenüber moralisch zu positionieren. Im Namen der raison historique, die Burguière in Anlehnung an Bloch zu retten beabsichtigt, plädiert der Autor dafür, die Geschichte als Disziplin des Verstehens (im Diltheyschen Sinne) und nicht des (Ver-)Urteilens anzusehen.

Was diese historische Vernunft vermag, zeigt Burguière meisterhaft und überzeugend im letzten Kapitel, das deutlich über den Fall Jean-Paul Sartre hinausgeht. Denn damit wirft Burguière die nicht restlos auszuschöpfende Frage auf, ob das historische Verstehen nicht notwendigerweise zum Verständnis für vergangene Handlungen führt, die wir heute moralisch verurteilen, und folglich Gefahr läuft, diese zu relativieren.

1 François Dosse, Expansion et fragmentation: la »nouvelle histoire«, in: ders., Christian Delacroix, Patrick Garcia (Hg.), Les courants historiques en France: XIXe–XXe siècle, Paris 2005, S. 392–407, S. 393.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Lisa Regazzoni, Rezension von/compte rendu de: André Burguière, Les affinités sélectives. Un parcours historiographique, Paris (Éditions de l’EHESS) 2022, 332 p. (Cas de figure, 54), ISBN 978-2-7132-2938-1, EUR 16,00., in: Francia-Recensio 2024/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.105394