Mit dem hier anzuzeigenden Band 15 ist die Neuausgabe der Gesammelten Schriften von Jean Jaurès in 17 Bänden (vorläufig) beendet. Ein großes Projekt ist nach einem Vierteljahrhundert editorischer Arbeit glücklich vor Anker gegangen. Für jeden, der sich für den französischen und internationalen Sozialismus vor 1914 interessiert, wird dieses Gesamtwerk, und nicht zuletzt dieser abschließende Band, von größtem Interesse sein.

In der »introduction générale« (7–24) schildern die beiden Herausgeber zunächst den Weg aller Versuche seit den 1920er-Jahren, Gesamtausgaben aller Äußerungen dieses bedeutendsten französischen Sozialisten des 20. Jahrhunderts zu veröffentlichen. Und bescheiden geben sie zu bedenken, dass auch mit diesen Œuvres complètes wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Denn immer wieder tauchen neue Jaurès-Texte auf, wie beispielsweise das soeben erschienene Heft der Société d’études jaurésiennes um den seit Jahrzehnten unermüdlich wirkenden Gilles Candar zeigt (Cahiers Jaurès No. 251 , janvier–mars 2024, Hommage à Jean-Jacques Becker).

Die Lektüre wird durch die stetigen, aber diskreten Hinweise und Verweise der Herausgeber zu jedem einzelnen Beitrag sehr erleichtert. Das ist sicherlich nicht ganz fehlerfrei (so z. B. S. 71 FN: die Rede von Jaurès vom 9. Dezemeber 1912 galt nicht dem Aufrüstungsprojekt vom März 1913, sondern dem sog. »Kadergesetz« vom Dezember 1912). Aber insgesamt sind die Sacherklärungen und Personenbeschreibungen sehr zuverlässig, auch was die Charakterisierung nicht-französischer Politiker und Militärs angeht.

Der Band ist in erster Linie dem Kampf Jaurès’, der französischen Sozialisten und Syndikalisten sowie der Zweiten Internationale gegen den drohenden Krieg seit der Agadir-Krise von 1911 gewidmet. Ab 1912 brachten die Kriege zwischen den Balkanstaaten und der Türkei sowie auch untereinander das »europäische Konzert« der Großmächte aus dem ohnehin instabilen Gleichgewicht. Und überall war die Furcht groß, dass sich hieraus ein Konflikt zwischen den Großmächten entwickeln könnte, waren diese doch sehr vielfältig und gleichzeitig auch antagonistisch mit den Balkanstaaten vernetzt. Vielleicht hat niemand so konkret wie Jean Jaurès dieses Szenario überblickt und die darüber hängenden schweren Wolken eines möglichen Großen Krieges besser eingeschätzt. Im Unterschied zu den allermeisten Kommentatoren seiner Zeit hat Jaurès sich immer wieder für ein Überleben des Osmanischen Reichs engagiert, das er für den Zusammenhalt Europas für unabdingbar hielt. Seine Furcht, dass bei einem Aufteilen des Osmanischen Reiches heftigste Religionskämpfe und insbesondere eine Verfolgung der Muslime entstehen würde, ist – mutatis mutandis – heute von großer Aktualität.

Die Lektüre dieses ersten Teils des Bandes (7–291) mit der klugen Einleitung von Christophe Prochasson schafft dem Leser ein scharf gezeichnetes Panorama der damaligen Situation und natürlich in erster Linie der ungemein vielfältigen und perspektivischen Bemerkungen von Jaurès in den hier abgedruckten Vorträgen, Zeitungsartikeln und parlamentarischen Interventionen.

In Jaurès’ Reden und Schreiben war ab 1912 alles dem Kampf gegen den drohenden Europäischen Krieg gewidmet. Ein herausragendes Ereignis war der Basler Kongress der Zweiten Internationale vom 24./25. November 1912. Die Ansprache von Jaurès (64–67) galt damals schon und in der Literatur bis heute als das Hauptereignis dieses Kongresses. Deren Kernsatz, häufig zitiert, sei auch hier noch wiederholt. Mit Bezug auf Schillers »Lied von der Glocke« kommentierte Jaurès den Glockenschlag der Basler Kathedrale, wo der Kongress stattfand:

»Nous avons été reçus dans cette église au son des cloches qui me parut tout à l’heure, comme un appel à la réconciliation générale. Il me rappela l’inscription que Schiller avait gravée sur sa cloche symbolique: ›Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango! Vivos voco: j’appelle les vivants pour qu’ils se défendent contre le monstre qui apparaît à l’horizon‹. (Mouvement). ›Mortuos plango: je pleure sur les morts innombrables couchés là-bas vers l’Orient et dont la puanteur arrive jusqu’à nous comme un remords‹. (Mouvement). ›Fulgura frango: je briserai les foudres de la guerre qui menacent dans les nuées‹. (Tempête d’applaudissements)«.

Und im folgenden Jahr 1913, wo die internationale Politik vom Wettrüsten der Großmächte dominiert wurde, war jede öffentliche Stellungnahme des Führers der französischen Sozialisten der Kriegsgefahr gewidmet. Die ständige Warnung vor den Fallstricken des Imperialismus verband sich dabei auf das Engste mit einer scharfen und profunden Kritik insbesondere der französischen Rüstungen, vor allem dem im März 1913 vorgelegten Projekt der Regierung, die Dienstpflicht in der aktiven Armee von bislang zwei auf nunmehr drei Jahre zu verlängern, vorgeblich, um auf diese Weise einen »plötzlichen Angriff« (attaque brusquée), also einen Überfall Deutschlands auf Frankreich zu verhindern. Jaurès, der ein ausgewiesener Experte auch für militärische Interna war, wie sein großes Buch über die »Neue Armee« von 1911 zeigt, nahm das Gesetzesprojekt Punkt für Punkt auseinander und zeigte, dass nichts gewonnen wäre, wenn man einen Rekrutenjahrgang länger unter den Fahnen hielte. Im Endeffekt komme es im Krieg der Massenheere auf die möglichst reibungslose Eingliederung aller Reservisten-Jahrgänge an. Jaurès’ Fundamentalkritik fand zwar viele Anhänger unter den Linken, das Gesetz wurde aber gleichwohl mit knapper Mehrheit verabschiedet. Allerdings wurde wegen des Sieges der Sozialisten und bürgerlichen Linken bei den Wahlen von 1914 eine baldige Abschaffung des Wehrgesetzes stark diskutiert – was der Mörder von Jaurès, Raoul Villain, bei seiner Verhaftung am 31. Juli 1914 als Motiv für seine Tat angab: Wegen seines Kampfes gegen das Wehrgesetz sei Jaurès ein Vaterlandsverräter und musste deshalb mit dem Tod bestraft werden.

Der zweite Teil dieses Buches (293–580) wird ebenfalls mit großer Sachkunde von Marion Fontaine eingeleitet. Er ist allen anderen Problemen gewidmet, die Jaurès und den französischen Sozialismus in diesen Jahren bewegten, insbesondere die Frage des »Laizismus« der Republik, die Reform des Wahlrechts und des Steuersystems. Auch ging es u. a. um die Gleichberechtigung der Frau, das Verhältnis zwischen Sozialismus und Syndikalismus, die Kritik des Imperialismus. Vieles davon stand auch im Zusammenhang mit den Rüstungsfragen, aber es ist sicherlich zielführend, dass die Hg. nicht strikt chronologisch vorgehen, sondern wichtige Sachkomplexe trotz aller Interaktionen voneinander trennen.

Den Abschluss des Bandes bilden »Annexes« über die Subskriptionen früherer und nur teilweise realisierter Jaurès-Editionen sowie eine komplette chronologische Liste der Äußerungen von Jean Jaurès. Eine umfängliche, aber nicht erdrückende Auswahlbibliografie nach Sachgesichtspunkten sowie ein Personenverzeichnis runden den Band ab.

Man kann die Hg. zu diesem gelungenen Abschluss der Gesamtausgabe der Werke von Jaurès ganz uneingeschränkt beglückwünschen. Es ist zu hoffen, dass nicht allein dieser Band, sondern die insgesamt 17 Bände der Œuvres von Jean Jaurès Aufnahme in viele Bibliotheken weltweit finden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gerd Krumeich, Rezension von/compte rendu de: Jean Jaurès, Guerre à la guerre!, éd. par Marion Fontaine, Christophe Prochasson, Paris (Fayard) 2023, 600 p. (Œuvres de Jean Jaurès, 15), ISBN 978-2-213-72657-1, EUR 35,00., in: Francia-Recensio 2024/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.105409