Nach zwei dickleibigen Bänden zum Ersten Weltkrieg und zu dessen Nachgeschichte (bzw. der Vorgeschichte einer neuen Weltordnung), in denen Jörn Leonhard paradigmatisch die Potenziale globalgeschichtlicher Perspektiven ebenso deutlich vor Augen führte wie die Stärken erzählender Geschichtsschreibung eindrucksvoll demonstrierte (so man sie denn so gut beherrscht wie der Autor), und einem schmaleren, thesenhaft zugespitzten Essay zum Beenden von Kriegen, zeigt Leonhard mit der vorliegenden Publikation, dass er auch als Herausgeber Großes zu leisten versteht. »Große Erwartungen« – das ist nicht nur ein Buchtitel, der auf die behandelte Zeit zielt, sondern auch die Haltung ausdrückt, mit der sich der Rezensent dem Buch nähert.
Die schon in den Bänden zum Ersten Weltkrieg angelegte weltumfassende Sichtweise nimmt auch dieses Buch ein, schon von Beginn wird dem Leser nicht nur das Geschehen in Paris oder den anderen Hauptstädten Europas berichtet, sondern er wird auf eine Lektürereise ins entfernte Peking entführt. Dort verdeutlicht Leonhard eindrucksvoll, dass der Erste Weltkrieg zwar als europäischer Krieg begonnen haben mag; dagegen endete er tatsächlich als globales Ereignis. Die programmatisch eingeführte »Provinzialisierung Europas« (Chakrabarty) führt Leonhard so leichthändig vor – und das (man ist geneigt zu sagen wie gewohnt) stilistisch hoch ansprechend und intellektuell nicht minder anregend. Allein die Einleitung des Sammelbandes könnte die Auftaktlektüre für jedes Universitätsseminar zu den globalen 1920er-Jahren abgeben.
Und der Band hält, was die Einleitung verspricht. Leonhard hat eine illustre Schar von Experten und einer Expertin um sich versammelt, die allesamt aus den eigenen Quellenrecherchen und zum Teil langjährigen Forschungen schöpfend »ihre« Themen behandeln – immer bezogen auf die von Leonhard in der Einleitung eingeführten »großen Erwartungen« und damit immer mit einer zukunftsoffenen Perspektive. Die Zwischenüberschriften, die einzelne Aufsätze zu Paketen zusammenschnüren, wirken dabei vielleicht zuweilen etwas arbiträr, die Aufsätze selbst aber nehmen den Leser und die Leserin mit auf eine Zeitreise in die unmittelbare Nachkriegszeit nach 1918. Vom Osmanischen Reich bis nach Südamerika, von den USA bis nach Afrika und den verschiedenen europäischen (hier mit besonderer Betonung von Mittel- und Ostmitteleuropa, Frankreich oder Großbritannien kommen dagegen nicht in eigenen Kapiteln vor) und asiatischen (hier insbesondere Japan) Schauplätzen.
Dabei analysieren die Aufsätze klug die Fallhöhe zwischen den sowohl durch die einschneidenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wie die heilsbringende Rhetorik insbesondere Woodrow Wilsons in den letzten Monaten des Kriegs und vor allem nach seinem Ende geweckten »großen Erwartungen« und der im Untertitel angesprochenen »Neuordnung der Welt«. Diese entsprach selten dem, was sich die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen erhofft hatten. Sei es auf internationaler Ebene – also durch eine größere Gleichberechtigung im interstaatlichen Kontakt oder gar das Ende des Kolonialismus; sei es auf nationaler Ebene, so insbesondere beim Aufbau von Nationalstaaten in Europa, ein Prozess, der in vielen Fällen einer Fortführung des Krieges mit neuen Fronten, neuen Kontrahenten und neuen Zielen glich.
Nach der Lektüre könnte man deshalb mit dem alten Faust-Zitat schließen: »Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen« – hier nur vielleicht in der Abwandlung: »Wer vieles bringt, wird nicht jedem alles bringen können«. Denn natürlich ließen sich dem Reigen allesamt anregender Aufsätze weitere hinzufügen und sicher wird sich jeder Leser und jede Leserin hier weitere Ergänzungen wünschen. Dem Rezensenten zum Beispiel fiel auf, dass der Völkerbund zwar in zahlreichen der Beiträge Erwähnung findet, dessen Rolle für die unterschiedlichsten Themen auch diskutiert wird – so beim Verhältnis von Wilson zu Lenin, bei Marcus Payks Diskussion des Wandels des Völkerrechts nach 1918/19 oder beim Umgang mit Staatenlosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Kapitel allerdings, das sich exklusiv dieser neuen internationalen Organisation widmen und dafür die in den letzten Jahrzehnten angewachsene neuere Völkerbundforschung berücksichtigen würde, fehlt, wäre aber im Gesamtkontext des Bandes gut vorstellbar.
Ähnlich könnte man zweitens eine breitere Streuung geschichtswissenschaftlicher Perspektiven vermissen; der Band versammelt so vor allem (sicher kultur- und sozialgeschichtlich geöffnete) politikhistorische Beiträge. Genuin kultur- oder sozialgeschichtliche (hier könnte man auch an die »großen Erwartungen« denken, die z. B. Frauen mit den Aufbrüchen nach 1918 verbanden) finden sich dagegen nicht. Das Gleiche gilt für wirtschaftshistorische Auseinandersetzungen.
Ein dritter Punkt der auf hohem Niveau aufsetzenden Kritik ist weniger inhaltlicher, als vielmehr struktureller Natur: Der Band basiert auf Aufsätzen ausgewiesener Expertinnen und Experten, die für diesen Zweck die Befunde ihrer umfangreicheren Studien pointiert zusammenfassen und entlang der in der Einleitung formulierten Fragestellungen diskutieren. Ein solcher Band verlangt im Grunde nach einer erweiterten Leserschaft – z. B. (wie oben angedeutet) im universitären oder auch im schulischen Kontext. Dem steht allerdings der hohe Preis der Publikation entgegen. Wenn der Rezensent einen Wunsch frei hätte, so würde er sich wünschen, dass die Bundeszentrale für politische Bildung auf das Buch aufmerksam würde und es zu einem günstigen Preis Interessierten zur Verfügung stellte. Das wäre ein unbedingter Gewinn, und das nicht nur für die universitäre Lehre zur internationalen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jonathan Voges, Rezension von/compte rendu de: Jörn Leonhard (Hg.), Große Erwartungen. 1919 und die Neuordnung der Welt, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2023, 361 S. (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 100), ISBN 978-3-11-062429-8, EUR 84,95., in: Francia-Recensio 2024/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.105415