Der Rechtspopulismus wird oft als rückwärtsgewandt und restaurativ gedeutet, er verspreche die Rückkehr zu sicheren Verhältnissen und traditionellen Moralvorstellungen – kurz: zur vermeintlichen Normalität. Rechtspopulistische Parteien und Bewegungen bedienten somit gleichzeitig »Vergangenheitssehnsüchte und Zukunftsängste«. Dieser verbreiteten Sichtweise widerspricht Philipp Rhein, Politikwissenschaftler an der Universität Kassel, mit Nachdruck: Eine solche Vorstellung verhindere ein »besseres Verständnis der sozialen Ursachen, die den Vormarsch des Rechtspopulismus erklären«, und unterschätze »die Demokratiebedrohung, die von ihm ausgeht« (13). Seine zwischen 2019 und 2023 im Tübinger Promotionskolleg Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität entstandene Arbeit gründet hauptsächlich auf 12 »offenen« Interviews, die in der Regel deutlich länger als 90 Minuten dauerten, und zwei Protokollen teilnehmender Beobachtungen auf Veranstaltungen der Alternative für Deutschland (AfD) auf Orts- und Kreisebene. Ziel war es, »die biografisch-erfahrungsbezogenen Elemente hinter den politischen Präferenzen oder Einstellungen« (98) der Interviewpartnerinnen und -partner – vier Frauen, acht Männer – hervorzulocken. Ob deren Aussagen faktisch richtig waren, interessierte dabei nicht, auch nicht deren Nähe zu rechtsextremistischen Positionen. Die These lautet vielmehr, dass »im Rechtspopulismus die Wut über den Verlust einer temporalen Ordnung der Gesellschaft zum Ausdruck kommt und dabei um diese Ordnung gerungen wird« (15). Das hört sich zunächst recht abstrakt an, doch die Interviews lassen erkennen, was das konkret bedeuten kann.

Nach der Einleitung setzt sich Rhein mit gängigen Erklärungen zu den Ursachen des Rechtspopulismus auseinander mit dem Ergebnis, dass es sich dabei nicht um eine »neuralgische Angst- und Kontrollrückgewinnungsreaktion von Globalisierungs-›Opfern‹« (32) handle. Angst- und Deprivationshypothesen seien »zu unterkomplex«, in der Forschung kristallisiere sich im Gegensatz dazu mehr und mehr heraus, dass »der Zusammenhang zwischen Krise und Rechtspopulismus vor allem über prekäre Zukunftserwartungen und Pessimismus vermittelt zu sein scheint«, die in »mittleren sozialen Lagen« besonders verbreitet seien (44). Das nächste Kapitel schließt an die Debatten über das »Aufbegehren gegen den Verlust von Zukunft« an, d. h. gegen das Erkennen und Erleben, »dass die eigene kulturelle Lebensform und Identität, mit ihren Normalitätsannahmen und Hegemonialitätsansprüchen, keine Zukunft haben könnte« (48). Wie aus der empirischen Analyse hervorgeht, kleiden AfD-Wählerinnen und -wähler die Erfahrung einer »Zeitkrise« in »apokalyptischen Bildern und Endzeitvorstellungen aus und verknüpfen mit der AfD eine elitäre Vorstellung einer Sammlung von ›Auserwählten‹« (49). Im dritten Kapitel werden der theoretisch-methodische Zugriff und die Datengenese erläutert.

Im vierten Kapitel präsentiert Rhein unter der Überschrift »Zwischen Selbstviktimisierung und Selbstelitisierung« zwei charakteristische rechtspopulistische »Sinntypen«, nämlich die »Durchschauenden« und die »Opfer«. Ersteren sei ein »elitäres Selbstbild zu eigen«, sie glaubten, die »Wahrheit« hinter den gesellschaftlichen Entwicklungen zu kennen; letztere fühlten sich bedroht, als »Opfer von Ausgrenzung und Stigmatisierung oder von Entsolidarisierung« (131). Hier kommt nun die Empirie voll zum Tragen, die Interviews demonstrieren anschaulich die Rolle der unterschiedlichen »sozial-materiellen Lebenslage[n]« (196) der einzelnen Fälle. Diese Thematik wird im Anschluss weiter vertieft. Besonders erschreckend ist die bei den erwerbslosen Interviewten feststellbare destruktive Energie: Die Wahl der AfD gilt in dieser Gruppe nicht als »Retourkutsche« an die Regierung und die »etablierten« Parteien, sondern dahinter steht »ein ausgeprägter Wille zur Zerstörung und Beseitigung« des ganzen »Systems«, das »beständig Enttäuschungen produziere« (240–241). Wirklich innovativ und originell, aber auch nicht unproblematisch, ist die im sechsten Kapitel exemplifizierte These vom rechtspopulistischen Chiliasmus, verstanden als christlich-revolutionäre Endzeitvorstellung, nach der »die Gerechten und Auserwählten ein Tausendjähriges Reich des Friedens mit Christus errichten« (254). Problematisch ist daran das wenig repräsentative Sample, das doch sehr stark geprägt scheint von dem im Württembergischen virulenten Pietismus – ein Zusammenhang, der auch schon in Studien zur regionalen Verbreitung von Verschwörungsdenken herausgearbeitet wurde.

Trotz dieses Vorbehalts: Rhein liefert Material und Denkanstöße in Hülle und Fülle, um über Ursachen und Perspektiven des Rechtspopulismus neu nachzudenken und passende Gegenstrategien zu entwickeln. Er argumentiert auf der Höhe der Forschung und zerpflückt oder relativiert mit Hilfe seiner empirischen Befunde gängige Erklärungsmuster. Die Sorge, die er in seiner Danksagung am Ende formuliert, das Buch käme möglicherweise nicht mehr »zur rechten Zeit«, dürfte gänzlich unbegründet sein. Im Gegenteil, es kommt genau zur rechten Zeit.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Philipp Rhein, Rechte Zeitverhältnisse. Eine soziologische Analyse von Endzeitvorstellungen im Rechtspopulismus, Frankfurt a. M. (Campus Verlag) 2023, 401 S., ISBN 978-3-593-51750-6, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2024/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.105423