Am 12. Oktober 1944, knapp zwei Monate nach der Libération, fand in Paris die erste Wahl zur Erneuerung der Académie française statt. Unter den drei neu gewählten »Unsterblichen« befand sich auch der Politologe, Geograf und politische Essayist André Siegfried. Auch wenn er weder aktiv an der Résistance beteiligt war noch nähere Beziehungen zur France libre um de Gaulle unterhielt, schien er doch geeignet, die Neuorientierung der altehrwürdigen Institution nach den Wirren der Besatzungsjahre mitzugestalten. Heute ist Siegfried – trotz des hohen Ranges, den die Intellektuellen in der mémoire collective Frankreichs einnehmen – weitgehend vergessen; Michel Winock etwa erwähnt ihn in seiner Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts nicht mit einem Wort. In den ersten Nachkriegsjahren hingegen befand sich Siegfried auf dem Höhepunkt seiner Prominenz: Als Professor am Collège de France, als Gründungsdirektor der Fondation nationale des sciences politiques, als spiritus rector des liberalen Thinktanks Le Musée social und als regelmäßiger Kolumnist der liberal-konservativen Tageszeitung Le Figaro hatte er bis zu seinem Tod am 28. März 1959 eine zentrale Position an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit inne.

Der an der University of New Brunswick lehrende Historiker Sean Kennedy, der zuvor mit einer Studie über die konservativ-nationalistischen Croix-de-Feu in der Zwischenkriegszeit hervorgetreten war, hat es sich mit France in the World. The Career of André Siegfried zur Aufgabe gemacht, die Laufbahn des späteren Académicien zu rekonstruieren (wie in so vielen Fällen lässt erst der Untertitel erkennen, worum es eigentlich geht). In sieben chronologisch angeordneten Kapiteln zeichnet Kennedy Leben und Werk Siegfrieds nach.

Die beiden ersten Kapitel sind der Sozialisation, der Ausbildung und den Anfängen der wissenschaftlichen Karriere gewidmet. Siegfried entstammte einer wohlhabenden, protestantischen Industriellen- und Politikerfamilie; sein Vater Jules Siegfried war als liberaler Republikaner zwischen 1886 und 1922, dem Jahr seines Todes, fast ununterbrochen als Abgeordneter, Senator und kurze Zeit auch als Minister in der großen Politik aktiv. Auch André schien zunächst für die Politik prädestiniert; nach dem Studium bewarb er sich in mehreren Anläufen um ein Mandat – allerdings erfolglos. Statt in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, begann er eine wissenschaftliche Laufbahn, deren Grundlage weniger sein eigentliches Universitätsstudium als vielmehr eine fast zwei Jahre dauernde Weltreise werden sollte, bei der er Nordamerika, Australien und Neuseeland, Japan und China besuchte. Aufgrund der Publikationen, die auf dem hier und auf weiteren Überseereisen gesammelten Material basierten, konnte sich Siegfried bereits vor 1914 einen soliden Ruf als Experte für die politische Kultur in den Ländern der Neuen Welt erarbeiten, was ihm schließlich 1910 eine Professur an der École libre des sciences politiques einbringen sollte – einer Institution, die von nun an die Basis für sein vielseitiges wissenschaftliches Schaffen werden sollte. Auch das zweite Forschungsgebiet, das Siegfried zeit seines Lebens beschäftigen sollte, nämlich die Wahlgeografie, erschloss sich ihm bereits vor dem Ersten Weltkrieg: Sein Tableau politique la France de l’Ouest sous la Troisième République, das wohl einzige seiner Werke, das heute noch fachwissenschaftlich diskutiert wird, fand allerdings zum Zeitpunkt seines Erscheinens kaum Beachtung.

In den beiden folgenden Kapiteln verfolgt Kennedy den weiteren Karriereverlauf seines Protagonisten in den 1920er und 1930er‑Jahren. Drei Perspektiven stehen dabei im Vordergrund: Der Autor zeichnet nach, wie sich Siegfrieds institutionelles Standing stetig verbesserte – 1932 die Aufnahme in die Académie des sciences morales et politiques und 1933 die Ernennung auf den Lehrstuhl für ökonomische und politische Geografie am Collège de France markieren dabei die wichtigsten Etappen; zweitens referiert Kennedy ausführlich die zahlreichen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Schriften Siegfrieds. Schließlich interessiert er sich für die politische Positionierung seines Helden; Kennedy zeigt, wie sehr seine Arbeiten von normativen Wertungen durchsetzt waren. Es ging Siegfried um die Bewahrung dessen, was er als das französische Zivilisationsmodell verstand, eine liberale, laizistische, okzidentale Gesellschaftsordnung, die er durch die Konkurrenz der amerikanischen Massengesellschaft, durch die Herausforderung des Sowjet-Kommunismus und durch die Emanzipationsbestrebungen der kolonisierten Völker Afrikas und Asiens bedroht sah. Hier erklärt sich der auf den ersten Blick etwas rätselhafte Titel des Buches: Die Stellung Frankreichs in der Welt war in der Tat das Lebensthema Siegfrieds – und seine Rolle lag spätestens seit den 1920er-Jahren darin, dem französischen (nicht nur akademischen) Publikum diese »Welt«, die er durch seine ausgedehnten Reisen und zahlreiche akademische Kontakte besser kannte als die allermeisten seiner Landsleute, durch seine Analysen näherzubringen.

Die drei abschließenden Kapitel sind der Kriegs- und Nachkriegszeit gewidmet. Anders als viele seiner Kollegen und politischen Freunde hielt sich Siegfried während der Besatzungszeit, die er überwiegend in Paris verbrachte, bedeckt: Weder kompromittierte er sich durch eine zu offensichtliche Parteinahme für Vichy noch ließ er Sympathien für die Résistance oder das Freie Frankreich erkennen. So konnte er seine Karriere nach der Libération nahtlos fortsetzen, ohne seine politischen Überzeugungen nachjustieren zu müssen; er blieb bis zu seinem Tod ein Verteidiger der »westlichen Zivilisation«, die Frankreich in seinen Augen in idealer Weise verkörperte.

Kennedy führt sein Publikum souverän und mit großer Quellenkenntnis durch dieses Intellektuellenleben. Ausführlich, dabei immer nah am Text und mit nuanciertem Urteil referiert er Siegfrieds Schriften; dabei tendiert er weder zu platter Apologie noch macht er sich die teils harsche Kritik einiger Autoren zu eigen, die auf den offenen Rassismus hingewiesen haben, der viele von Siegfrieds Schriften zu den außereuropäischen Gesellschaften durchzieht, oder die den teils latenten, teils expliziten Antisemitismus in vielen seiner Texte herausgearbeitet haben.

Doch gänzlich überzeugen kann das Buch nicht. Fraglich scheint vor allem, ob die strikt an der Chronologie orientierte biografische Form die richtige Herangehensweise ist, um einen Intellektuellen und Gelehrten wie Siegfried zu porträtieren. Denn dessen Œuvre war wesentlich dadurch geprägt, dass er seinen Lebensthemen im Grunde von den Anfängen seiner Karriere bis in die letzten Lebensjahre außerordentlich treu geblieben ist und sich auch seine Positionen von Schrift zu Schrift und Vortrag zu Vortrag allenfalls in Nuancen veränderten. Doch Kennedy beharrt darauf, jeden Text Siegfrieds einzeln zu referieren und zu analysieren. Zusammenhänge, die sich durch zahlreiche seiner Schriften ziehen – etwa die Auseinandersetzung Siegfrieds mit der US‑amerikanischen »Massengesellschaft«, seine Haltung zum Judentum oder die »Rassenfrage« in den Siedlungskolonien der »Neuen Welt«, um nur einige zu nennen –, werden durch das strikt chronologische Vorgehen auseinandergerissen, und die Querverweise innerhalb des Textes, die diese Zusammenhänge wiederherstellen sollen, wirken mit der Zeit arg ermüdend.

Ein zweites Manko liegt darin, dass der Fokus Kennedys relativ eng auf Siegfried und seine Schriften ausgerichtet bleibt; der intellektuelle und politische Kontext in dem dieser sich bewegte, bleibt dadurch blass und die Frage, inwieweit Siegfrieds Positionen Originalität beanspruchen konnten oder Teil eines intellektuellen Mainstreams waren, bleibt unbeantwortet. Zwar weist Kennedy zurecht darauf hin, dass Siegfrieds Überlegungen über den Faktor der »Rasse« in den Gesellschaften der Neuen Welt von vielen Zeitgenossen – auch solchen, die des expliziten Rassismus unverdächtig sind – nicht als skandalös wahrgenommen worden sind, aber solche Kontextualisierungen hätte man sich in systematischerer Form gewünscht.

FUSSNOTEN

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Daniel Mollenhauer, Rezension von/compte rendu de: Sean Kennedy, France in the World. The Career of André Siegfried, Montréal, QC (McGill-Queen’s University Press) 2023, 352 p., ISBN 978-0-2280-1431-7, USD 95,00., in: Francia-Recensio 2024/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.105458