Eignet sich nicht gerade die Iberische Halbinsel dazu, um Fragen zur Eschatologie und zur Diskussion um das Ende der Welt im Mittelalter zu erörtern? Lange Zeit hatten jedenfalls Thesen dominiert, die insbesondere die weitgehende Eroberung der Iberischen Halbinsel ab 711 durch Muslime und die etablierte Herrschaft als einen Hauptauslöser dafür sahen, dass Fragen von Eschatologie gerade im 8. Jahrhundert und in der Zeit des frühen Mittelalters in diesem Raum eine besondere Konjunktur erfuhren. Könnten nicht zuletzt die zahlreichen Kommentare zur Apokalypse des Beatus von Liébana diese These unterstützen? Gaelle Bosseman, die hier die gedruckte Fassung einer 2019 unter Betreuung von Patrick Henriet entstandenen thèse de doctorat an der École pratique des hautes études vorlegt, schlägt einen anderen Weg ein, der über lange Strecken durch ein ausgesprochen kodikologisches und mit Blick auf die handschriftliche Überlieferung gerichtetes Vorgehen gekennzeichnet ist. Sie stellt unter anderem Thesen von Juan Gil und Adeline Rucquoi insofern in Frage, als sie die Überlieferung in ihre jeweiligen Kontexte einbettet und dabei vor allem Träger, Verbreiter und Nutzer der eschatologischen Schriften ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellt. Nach der Einleitung und kurzer Skizzierung von Forschungsstand und Fragestellung geht sie in acht Kapiteln vor.

Die ersten beiden Kapitel thematisieren, was die Eschatologie für Gelehrte des frühen Mittelalters bedeutete. Bosseman kommt zum Ergebnis, dass dieser Diskurs vor allem durch Gelehrte und monastisch geprägt war, wie die Herstellung und Rezeption der einschlägigen Texte belegen. Die Kapitel drei bis fünf nehmen dann stärker die Themen und Bilder der einschlägigen Schriften in den Blick. Dabei werden die möglichen Motive mit philologischer und hilfswissenschaftlicher Akribie seziert, und es wird auch danach gefragt, wie und inwieweit Wissensbestände des Okzidents und Orients in iberische Kontexte integriert wurden. Es zeigt sich, dass die schon öfter vertretene These von einem stärkeren Austausch des christlichen frühmittelalterlichen Spaniens mit Europa und dem Mittelmeerraum (z. B. Jacques Fontaine, Manuel C. Díaz y Díaz) sich oft bestätigt hat und auch durch Untersuchung von Randnotizen und anderen Gebrauchsspuren weiter konkretisiert werden kann. Die Auseinandersetzung mit den Schriften des sogenannten Pseudo-Methodius spielt hier eine wichtige Rolle.

Die Kapitel sechs bis acht sind schließlich den Funktionen der eschatologischen Texte gewidmet. Hier kommen vielfache Aspekte zur Sprache: die Lesungen in Liturgie oder Kontemplation, aber auch die Nutzung in polemischer oder politischer Absicht. Fünf Anhänge (zur handschriftlichen Überlieferung des Apokalypsenkommentars des Beatus, zu den Randnotizen im Beatus-Exemplar aus San Miguel de Escalada, eine Kommentierung des Codex von Roda, der auch die sogen. Prophetische Chronik enthält, eine Teiltranskription der Bibel aus León [ACL 6], und der Text der tiburtinischen Sibylle in iberischen Überlieferungen) belegen ausgesprochen präzise verschiedene der vorgebrachten Thesen.

Das Buch verlangt dem Leser durchaus Lesedisziplin ab, die aber zu dem Urteil führt, dass hier ein sehr gelehrtes und fundiertes Buch entstanden ist. Die iberische Halbinsel erscheint darin doch europäischer und wesentlich weniger durch einen »Sonderweg« gekennzeichnet. Stellte man noch bis zum Ende des Franco-Regimes heraus, in welchem Maße Asturien und auch die dort entstandenen prognostisch-prophetischen Texte eine Rolle gespielt haben sollten, so hat Gaelle Bosseman mit ihrer tiefgehenden Quelleninterpretation andere Erklärungsmuster in den Vordergrund gerückt. Vielleicht hätte sie im einen oder anderen Fall auch deutschsprachige Literatur stärker berücksichtigen können, aber ihre Hauptergebnisse sind dadurch nicht betroffen. Nicht nur der Blick auf die Karte zur Verbreitung der Beatus-Handschriften (317) lässt fragen, warum Galicien in diesem Diskurs eine so unbedeutende Rolle spielte. Ist dies nur der Überlieferung geschuldet? In jedem Fall hat aber Gaelle Bosseman mit ihrer eindrücklichen Quellenuntersuchung die iberische Eschatologie buchstäblich wieder auf den Boden geholt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Klaus Herbers, Rezension von/compte rendu de: Gaelle Bosseman, Eschatologie et discours sur la fin des temps dans la péninsule Ibérique (VIIIe–XIe siècle), Madrid (Casa de Velázquez) 2023, 445 p. (Bibliothèque de la Casa de Velázquez), ISBN 978-84-9096-407, EUR 46,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106284