Dass es Gold und Silber, Mais und Tomaten, Tabak und Schokolade aus den amerikanischen Kontinenten in europäische Lebensgewohnheiten schafften, ist vermutlich Allgemeinwissen. Weniger bekannt ist, wie ebenfalls Männer, Frauen und Kinder frühzeitig aus der »neuen Welt« nach Europa kamen. Das Buch von Caroline Dodds Pennock, britische Expertin für vormoderne mittelamerikanische Geschichte, erzählt packend diese Geschichten von den ersten indigenen Reisenden, die unmittelbar nach der europäischen Ankunft den Atlantik Richtung Europa überquerten. Die ihnen zugeschriebenen Rollen als Botschafterinnen und Botschafter, als Exploratorinnen und Exploratoren, aber auch als Geiseln und als Versklavte sagen viel aus über die diversen Formen, die der wirtschaftliche, politische wie auch kulturelle Austausch zwischen Europa und den Amerikas im 15. und 16. Jahrhundert annehmen konnte.
Die Rekonstruktion der Schicksale dieser Menschen stehen für die Möglichkeiten der transatlantischen Mobilität und Integration Indigener in europäische Lebenswelten, Imaginarien und Funktionsrollen, und das weit vor der europäischen Kolonisierung Nord- und Südamerikas in späteren Jahrhunderten und vor der systematischen Versklavung und Verschleppung indigener Menschen. Der Fokus des Buches liegt darauf zu fragen, was indigene Menschen bewogen haben mag, manchmal freiwillig, manchmal weniger freiwillig, die lange und gefährliche Reise ins Unbekannte aufzunehmen und welche Eindrücke sie möglicherweise von ihrer Reise nach Europa zurücknahmen – denn einige Beispiele zeugen durchaus von häufigen Überfahrten (wie Manteo, siehe unten) oder einer gewissen Neugier auf diese europäische Ferne (wie bei den drei Tupinambá-Männern, die den französischen König 1562 trafen, S. 214). Auch wenn es schwierig, ja gar unmöglich sein mag, alle Motivationen zu ergründen, so waren zahlreiche der ersten indigenen Reisenden wertvolle »cultural brokers« für Europäer, die die Hilfe der Indigenen für Übersetzungen, ja gar als Unterstützende fürs Überleben ihrer Gruppe benötigten (Kapitel 2 »Go betweens«). Manteo und Wanchese, die seit 1584 in England lebten und sich dort in einem intellektuellen Zirkel offenbar akkulturiert hatten, adaptierten das alphabetische System für ihre eigene Algonkin-Sprache, bevor sie mit den Engländern zurückkehrten. Während Wanchese nach Wiederankunft auf dem amerikanischen Kontinent die Engländer spurlos verließ, gehörte Manteo zu jenen, die noch mehrmals den Atlantik überqueren würden (93–104).
Bemerkenswert ist auch der Fall von Malintzin (90–93), der Übersetzerin, Beraterin und Mutter eines Sohnes von Fernan Cortés, ohne deren Unterstützung die Konquistadoren nicht weit gekommen wären, und deren Rolle heute zu interpretieren besonders schwerfällt: War sie eine politische Agentin ihres Volkes und nutzte die Weißen und ihre Waffengewalt gegen ein anderes indigenes Volk? Oder war sie doch eher ein militärisches Opfer und ausgenutzte Genötigte der Konquistadoren? Was waren ihre Motivationen und Handlungsspielräume? Das Buch plädiert dafür, diese Unmöglichkeit heutiger Bewertungen auch bewusst als solche zu benennen und auf eine einheitliche Interpretation der multiformen Beweggründe zu verzichten.
Die »rauen« oder »wilden Ufer« im Buchtitel sind hier die europäischen Gefilde, mit ihren Menschen und Sitten, die von Indigenen »entdeckt« werden. Dieses Buch reiht sich ein in eine Serie aktueller Studien,1 die sich bemühen, statt der bisherigen Historiographie einer einseitigen »Entdeckung« der »neuen Welten« die Perspektive zu wechseln und ihr die frühen Bewegungen nichteuropäischer Personen entgegenzusetzen, und zwar als Individuen mit ihren ganz eigenen Motivationen und Erfahrungen. Diese Umkehrung gewohnter historischer Denkmuster und teleologischer Narrative über die lange unhinterfragte Meistererzählung einer europäisch-zentrierten Weltgeschichte erweist sich als sinnvoll und notwendig. Unter anderem hält sie den Lesenden vor Augen, dass die ersten europäischen Reise- und Kontaktversuche in den Amerikas (wie auch in Westafrika oder auf den Kanaren) keineswegs von Erfolg gekrönt waren. Wenn der Fokus auf jenen ersten indigenen Europareisenden liegt, so darf nicht vergessen werden, dass einige indigene Stämme ebenfalls europäische Geiseln einbehielten (wie beispielsweise die spanischen Versklavten der Mayas, S. 90), bzw. die ersten spärlichen Besiedlungen meist ihre Gründung nicht überstanden und die ersten Europäerinnen und Europäer auf dem amerikanischen Kontinent verschwanden (beispielsweise La Navidad auf Hispaniola ca. 1496 oder die »Lost Colony« von 1590), was die Machtbalance zu Ungunsten der Europäer deutlich macht. Mit dem heutigen Wissen über die spätere koloniale Realität darf jedoch nicht davon ausgegangen werden, indigene Bevölkerungen seien sofort dominiert worden. So begegnen den Lesenden Inkaprinzessinnen wie Francisca und ihre Bedienstete Isabel (175–179) oder der Botschafter und Unglücksrabe Don Pedro de Henao aus den Anden (192–197), die für ihre Rechte den Ozean überquerten und einen standesgemäßen Empfang erhielten (Kapitel 5 »Diplomacy«), ebenso wie die zahlreichen anderen Botschafter von 1528 aus dem königlichen Geblüt der Nahua, mit einer adeligen Abstammung, der sich die europäischen Herrschenden nicht entziehen konnten (22; 179–184). Ausgehend von individuellen Schicksalen, von denen nur wenige in dieser Rezension erwähnt werden können, fächert die Autorin ein weites, nuanciertes Panorama der Rechts- und Kulturgeschichte auf: So sperrte sich Königin Isabella I. »die Katholische« vehement dagegen, die Versklavung der amerikanischen Indigenen zu akzeptieren, sah sie sie doch vielmehr als ihre »freien Untertanen« an (insb. 43–44). Jene Indigene, die sich durchaus ihre Rechte auf Freiheit sowie gegen Versklavung und Freiheitsberaubung gegenüber spanischen Gerichten erfolgreich erkämpften und diese Justiz zu navigieren wussten (57–73, siehe auch Kapitel 1 »Slavery«). Ebendiese iberischen Quellen aus dem juristischen Kontext sind sehr ergiebig, um einen temporären Einblick in europäische Lebenssituationen Indigener verschiedenster sozialer und geographischer Herkunft zu erhalten.
Die Belege einiger Reisenden, deren Rolle irgendwo zwischen geachteten Gästen, »exotischen« Kuriositäten und politischen Geiseln oszillierte, wie die drei aus Kanada stammenden Inuits Kalicho, Arnaq und das Baby Nutaaq, die 1566 in London vorgeführt wurden und an ihren Strapazen starben (227–237), die fünfzig Tupi, die beim Einzug des französischen Königspaares in Rouen 1550 ein »brasilianisches Dorf« nachstellten (204–207), oder jene Totonaken-Gruppe, die Weiditz auf seinen berühmten Kostümbuch, vermutlich idealisiert, am Hofe Karls V. 1528 für die Nachwelt immortalisierte (24–25), sind die spektakulärsten Beispiele, die die Rezensentin subjektiv herausgesucht hat; sie sprechen nicht für die Vielfalt an weiteren Beispielen. Die Autorin deutet und dekonstruiert auch transatlantische Narrative am Beispiel der Notablenfamilie aus der Normandie, die sich bis heute auf den aus Brasilien stammenden und 1505 in Frankreich eingetroffenen indigenen Adeligen Essomericq beruft (116–121); eines der zahlreichen Beispiele für die frühe indigene Präsenz in Europa (vgl. Kapitel 3 »Kith and Kin«). Nichtsdestotrotz verharmlost die Studie an keiner Stelle die Gräuel der Entmenschlichung von Indigenen noch die sexuelle Ausbeutung von Frauen, die schon durch die allerersten europäischen Kolonisatoren (insb. 53–54) begann. Auch die enorme Todesrate von indigenen Europareisenden, durch Krankheiten und Entwurzelung geschwächt und ihre menschenunwürdige Behandlung oder Zurschaustellung wird angesprochen.
Sprache schafft historiographische Realität. Insbesondere bei der historischen Auseinandersetzung und auf der Basis vormoderner Quellenkritik muss eine solche Studie mit teilweise rassistischen und vor allem kolonial geprägten Sprachgewohnheiten zu indigenen Eigenbezeichnungen brechen (z. B. »Indians« vs. »Natives«, »Indios« vs. konkreter Stammes- oder Volksbezeichnungen) und, wo möglich, reflektieren und ggf. neue Angebote machen (bis hin zur Rekonstruktion der Eigennamen der indigenen Akteurinnen und Akteure statt der europäisierten Benennungen). Dies gelingt der Autorin auf allen Ebenen und integriert durch die offene Thematisierung auch die Lesenden in den Denkprozess.2
Wenn schon in Europa menschliche Lebenswege von Männern und insbesondere von Frauen aus der Vormoderne in Archiven so schwer zu fassen sind, so stellt sich die Lage bei der fragmentierten, einseitigen Quellenlage zu indigenen Reisenden wesentlich schwieriger dar. Eine gehörige Portion Spekulation und Unsicherheit über Zahlen (die Autorin verwendet häufig die vage und unspezifische Bezeichnung »tausende« um dieser Dunkelziffer gerecht zu werden),3 Beweggründe, ja gar Erfahrungen der indigenen Reisenden »an wilden Ufern« ist sowohl dem Buchgenre als Werk für ein breiteres interessiertes Publikum, der chronologischen als auch anthropologischen Ferne, sowie vor allem der wissenschaftlichen Redlichkeit geschuldet. Hinter den zahlreichen belegten Einzelschicksalen verbergen sich sicher unzählige weitere, deren Existenz manchmal ganz kurzfristig in Quellen wie Gerichtsprozessen oder in Berichten zu Empfängen an europäischen Höfen offenbar wird, um dann wieder aus der archivalischen Überlieferung zu »verschwinden« – was aber nicht bedeutet, dass es diese Menschen und viele weitere im vormodernen Europa nicht gegeben habe.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Vanina Kopp, Rezension von/compte rendu de: Caroline Dodds Pennock, On Savage Shores. How Indigenous Americans Discovered Europe, New York (Knopf) 2023, 320 p., ISBN 978-1-5247-4926-2, USD 32,50., in: Francia-Recensio 2024/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106287