Das Buch bietet die 2022 in der Brepols-Reihe Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 310 veröffentlichten Quellen in Übersetzung mit zugehörigen Einleitungen und Kommentaren. Dies ist verdienstvoll, denn lange Zeit standen hagiographische Überlieferungen der Iberischen Halbinsel ein wenig im Abseits oder waren aufgrund der Unterwerfung großer Teile der Halbinsel seit 711 unter muslimisch-arabischer Herrschaft eher Sonderfälle, denkt man zum Beispiel an das Dossier der sogenannten Märtyrer von Córdoba. Vergleicht man die in diesem Band von verschiedenen, ausgewiesenen Kennern gebotenen Texte, so fällt gleichwohl die besondere Situation der sieben Heiligendossiers zum Raum Aragón, Kastilien und León auf. Blickt man aus kulturhistorischer Perspektive auf die sieben in diesem Band edierten Textcorpora, so wird eine gewisse Sonderstellung der Iberischen Halbinsel deutlich, die sich auch in den edierten Texten spiegelt.
Deshalb seien die (insgesamt sieben) Dossiers kurz vorgestellt. Es beginnt mit einem Juwel: Die Vita s. Urbici (BHL 8408m) ist auf einem Folio in westgotischer Schrift überliefert, dem ein Eulalia-Hymnus beigegeben ist. Das nächste Dossier zum hl. Indalecius von Urci (in der Nähe von Almería) betrifft einen der angeblichen sieben Missionare (varones apostolicos) der Iberischen Halbinsel. Diese Missionare tauchen erstmals in einem Text des 8. Jahrhunderts auf. Die Reliquien des hl. Indalecius wurden 1084 aus Pechina (der arabische Name für Urci) in das Kloster San Juan de la Peña übertragen – in den Ort, der nicht nur für die aragonensische Identität wichtig war, sondern auch als Ort gilt, wo wenig zuvor die Einführung der römischen Liturgie gefördert wurde. Die Translatio gehört in die Tradition weiterer Berichte dieser Zeit von Übertragungen aus dem muslimisch beherrschten Teil Spaniens in den Norden. Ebretmus, ein »unwürdiger« Mönch aus Cluny, gilt als Verfasser des Translationsberichtes, dessen Echtheit zuweilen angezweifelt wurde. P. Henriet räumte die Zweifel jedoch schon in der 2022 publizierten Einleitung zur lateinischen Edition unter anderem mit der Beobachtung aus, dass in der letzten Wundergeschichte eine Wasseruhr beschrieben wird, die den Kenntnissen über dieses Instrument im 11. Jahrhundert entspricht (Corpus Christianorum Cont. Med., S. 43*). Der Reliquienwunsch des Abtes Sancho von San Juan de la Peña passt auch in die Zeit, denn zu Beginn führt dieser Klage darüber, dass er leider nicht über so wirksame Reliquien verfüge, wie er bei seinen Reisen nach Rom, Montecassino und Compostela gesehen habe. Mit Hilfe eines gleichnamigen Verwandten aus dem muslimischen Spanien kamen beide bei dessen Besuch in San Juan de la Peña überein, dass das Kloster die Reliquien des hl. Indalecius erhalten könnte. Während eines Krieges unter muslimischen Herrschern im Süden begann die Translation. Über Denia, Valencia, Tortosa und Lleida erreichten die Reliquien das Pyrenäenkloster am 24. März 1084, als der König gerade dort weilte. Diese Reisebeschreibung erlaubt Einblicke in die Beziehungen zwischen den verschiedenen (christlich und muslimisch dominierten) Herrschaftsräumen. Dies ereignete sich alles in einem gewissen zeitlichen Ambiente, denn der Verwandte aus dem Süden soll, bevor er nach San Juan de la Peña kam, in Santiago de Compostela gewesen sein. Dies war nicht der direkte Weg!
Die Translationsgeschichte des Indalecius zeigt aber auch das Ringen im 11./12. Jahrhunderts um die christlichen Ursprünge der Iberischen Halbinsel. Hatten Paulus oder Jakobus der Ältere auf der Iberischen Halbinsel missioniert? Indalecius gehört zu den sieben varones, die direkt von Petrus und Paulus zur Evangelisierung der Iberischen Halbinsel geschickt worden sein sollen. Dies widersprach in gewisser Weise den vor allem in Compostela vertretenen Ansprüchen, dass Jakobus der Ältere die Iberische Halbinsel missioniert habe. Dort wurden die sieben varones wohl schon im 9. Jahrhundert im Brief eines angeblichen Papstes Leo zu Begleitern des Jakobus umgedeutet. Der Streit flammte aber unter Papst Gregor VII. (1073–1085) erneut auf. In der Translatio wird eine neue Perspektive entwickelt, denn Indalecius wird in dieser zwar als römischer Missionar dargestellt, aber als einer der 72 Jünger und damit in gewisser Weise unabhängig (20–26; 122‑139).
Das dritte Dossier betrifft die Heiligen Voto und Felix von Zaragoza, deren Viten in verschiedenen Versionen überliefert sind. Das Dossier beansprucht auch deshalb hohe Aufmerksamkeit, weil zahlreiche Informationen wiederum Hintergründe zum aragonesischen Kloster San Juan de la Peña bieten. Eine Fassung wurde wohl sogar zur Abfassung der Crónica de San Juan de la Peña verwendet.
Die Translatio und die Mirakel des Presbyters Felix, die nur in einer Handschrift der Real Academia de la Historia überliefert sind, besitzen enge Bezüge zum hl. Aemilianus und ebenso zu Braulius von Zaragoza. Vielleicht war der Autor der hagiographischen Texte ein Mönch aus San Millán de la Cogolla.
Translatio und Mirakel des hl. Aemilianus von Cogolla erschließen das wichtige Kloster Kastilien. Die Translatio präsentiert sich in acht Lektionen, die von einem Mönch dieses Klosters im beginnenden 13. Jahrhundert verfertigt wurden. Zwei Fassungen, die in der Real Academia de la Historia in Madrid überliefert sind, unterscheiden sich bei den Miracula durch eine lange und eine kurze Version. Die lange Fassung enthält auch das Privileg der votos, das als Grundlegung für die Abgaben der Bevölkerung an San Millán (in Parallele oder eher Abgrenzung zu Santiago de Compostela) hier überliefert ist, in einer vollständigeren Form.
Das vorletzte Dossier betrifft den hl. Zoylus (Passio, Translatio und Miracula), dessen Reliquien (ähnlich wie im Falle des hl. Indalecius) um 1065 von Córdoba nach Carrión de los Condes übertragen wurden. Mit diesem Dossier hatte sich P. Henriet bereits mehrfach auseinandergesetzt. Er kann auch in der Einleitung (60–66) verdeutlichen, welche Rolle der Liturgiewechsel und das cluniazensische Ambiente in diesem Falle spielten.
Abgeschlossen wird die Sammlung mit einem Dossier zum hl. Isidorus agricola (Isidro Labrador) aus dem 13. Jahrhundert. Der Protagonist wurde wohl gegen Ende des 12. Jahrhunderts geboren, kurze Zeit bevor Madrid Teil Kastiliens wurde.
Die vorangestellten Einleitungen sind in der spanischen Ausgabe der Texte kürzer als in der lateinischen, kritischen Edition von 2022. Leider wird nicht ganz deutlich, wie und wo diese Einleitungen gekürzt, geändert oder mit neuen Einsichten angereichert wurden, sodass künftig der Blick in beide Ausgaben nötig wird. Da der Verlag für Ende 2024 auch eine englische Übersetzung der Texte angekündigt hat, fragt man sich, wer die insgesamt spannenden Dossiers künftig in welcher Form und Sprache zur Kenntnis nehmen wird. Damit sei nichts gegen die Übersetzung der lateinischen Quellen gesagt, aber wie die Übersichtlichkeit bei künftigen Zitaten aussehen könnte, mag man sich leicht ausmalen, und eine solche Verlagspolitik bedarf sicher noch weiterer Diskussionen. Es ist insgesamt zu hoffen, dass auch mit diesem Band die Hagiographie künftig wieder stärker in die allgemeine Geschichte der Iberischen Halbinsel eingebunden wird. Nicht nur der Vergleich mit Dossiers aus dem übrigen Europa ist aufschlussreich, sondern auch die Verteilung der Dossiers in den Regna der Iberischen Halbinsel. Wenn Galicien fast völlig fehlt – hier dominiert die ganz spezielle Sammlung des Liber sancti Jacobi – so bedarf dieser Befund sicher weiterer Interpretation.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Klaus Herbers, Rezension von/compte rendu de: José Carlos Martín-Iglesias, Patrick Henriet, Carmen Esteban Martínez (ed.), Hagiografía hispana de los siglos IX–XIII en los Reinos de Aragón y Castilla y León. Vidas de santos, hallazgos y traslaciones de reliquias, libros de milagros, Himnos, Turnhout (Brepols) 2024, 320 p. (Corpus Christianorum in Translation, 46), ISBN 978-2-503-60932-4, EUR 60,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106293