Die Überlieferung des Mittelalters, insbesondere jene des frühen und hohen, bietet vor allem die Perspektive der gesellschaftlichen Eliten. Wer über Besitz und Macht verfügte, über den wissen wir heute viel; über jene, die hiervon nur wenig oder gar nichts hatten, meist kaum etwas. Diese Erkenntnis ist natürlich nicht sonderlich neu, aber sie sei den nachfolgenden Ausführungen vorangestellt, weil der vorzustellende Band dieses Problem zwar nicht behebt, jedoch einiges an Quellen bietet, um einen frischen Blick auf die oft übersehenen bzw. nur schwer fassbaren Schichten, Gruppen und Individuen der mittelalterlichen Gesellschaften zu werfen.
Mit Adelheid Krah hat sich eine nicht zuletzt für die Geschichte des Mittelalters mit einem Schwerpunkt auf den Raum des heutigen Bayerns und Österreichs besonders ausgewiesene Expertin der Edition des Amtsbuchs der Zensualinnen und Zensualen des Bistums Freising angenommen (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 9.7. Aug. Quart). Diese Handschrift enthält Einträge für die Zeit vom 10. bis zum 14. Jahrhundert und bietet entsprechend eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für Forschungen vom frühen bis zum späten Mittelalter. Der vorliegende Band ergänzt dabei thematisch die unter anderem von derselben Bearbeiterin vorgelegte Onlineedition des Freisinger liber censualium (München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, HL Freising 6). Darüber hinaus sind die meisten einschlägigen Amtsbücher des Hochstifts mittlerweile mitsamt den Digitalisaten älterer Editionen ebenfalls online verfügbar (https://www.bayerische-landesbibliothek-online.de/freisingertraditionen.html).
Obwohl sich auch andere inhaltliche Schwerpunkte angeboten hätten, liegt der Fokus im Einführungs- und Auswertungsteil der zu besprechenden Edition besonders auf der Bedeutung von Frauen und ihrer Einbettung in unterschiedliche Sozial- und Arbeitskontexte. Dabei bietet das dem Text der Handschrift vorangestellte Kapitel »Historischer Teil« eine breite Perspektive auf die Positionierung des bearbeiteten Texts im Kontext der Freisinger Amtsbuchüberlieferung (7–14), einen als »Update zur Problematik« bezeichneten Abschnitt zum Bild der Frau im Mittelalter (14–38) sowie Überblicke zu Grundbesitz und Arbeit (39–52), Ministerialen und bischöflicher »familia« (53–70) und pragmatischer Schriftlichkeit und Kodikologie (70–79). Gerade die mit Blick auf die Handschrift und ihren Entstehungskontext hier gebotenen Informationen sind hilfreich. Darüberhinausgehend sind die Ausführungen jedoch wiederholt unnötig weitschweifend sowie die Informationen und die gewählten Begriffe teilweise mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln. Die Behauptung, dass »[d]ie Frauengeschichte des Früh- und Hochmittelalters […] bisher nur wenig erforscht« worden sei (13), ist nicht nachvollziehbar. Ein Blick in die Schriften von Hans-Werner Goetz oder Hedwig Röckelein – ersterer ist im Literaturverzeichnis zumindest zweimal genannt, letztere gar nicht – oder neuere englischsprachige Veröffentlichungen hätten die Verfasserin vor diesem Fehlschluss bewahrt.
Ganz als ob der seit den 2000er-Jahren in der deutschen Forschung geführte Nachweis darüber, dass es Ansätze zu einem Lehnswesen nördlich der Alpen frühestens seit den Italienzügen Friedrich Barbarossas in den 1150er-Jahren gab, nie erbracht worden wäre, wird in der vorliegenden Publikation zudem noch »für die karolingische Epoche von einer ›Verreiterung‹ des Lehnswesens« gesprochen (31). Zudem ist die Unterüberschrift »Liebreiz und Heirat« (34) von eher vernachlässigbarem Mehrwert. Inwiefern weiterhin die heilige Maria »als Schutzpatronin der Frauen und ihrer Nachkommen im Bistum geradezu instrumentalisiert [wurde], um sie als Zensualinnen mit ihren Familien sozial und wirtschaftlich über viele Generationen an den geistlichen Grundbesitz des Bistums zu binden« (35), ist ebenfalls eher zweifelhaft, wird hierbei doch dem Wortlaut der Quellen zu viel Aussagewert zugebilligt.
Überzeugender gestaltet sich neben den beschreibenden Ausführungen zur Handschrift zudem die Edition des Texts selbst. Die insgesamt 363 einzelnen, meist kurz gehaltenen, Texte, zu denen hilfreiche zeitliche Einordnungen sowie weitergehende inhaltliche Erörterungen geboten werden, ermöglichen einen breiten Einblick in die Praxis der variierenden Abstufungen mittelalterlicher Unfreiheit und erlauben es, neben Einzelschicksalen nicht zuletzt auch Strukturen von Verwandtschaft zu rekonstruieren. Viele im Amtsbuch erwähnte Personen, die sich mehr oder minder freiwillig in die Abhängigkeit der Freisinger Kirche begaben bzw. durch andere an jene übertragen wurden, dürften hier ihre einzigen noch fassbaren Spuren in der Geschichte hinterlassen haben. Gerade die Vielzahl an sich wiederholenden Praktiken erlaubt es, für den heutigen bayerisch-österreichischen Raum sowie auch darüber hinausgehend, Strukturen fassbar zu machen. Nicht zuletzt die Tatsache, dass in den Quellen in großer Zahl Frauen erwähnt werden, macht deutlich, dass es hier besonders viele thematische Anknüpfungspunkte gibt.
Existenzielle Not war dabei ein besonderer Grund, um sich an die Freisinger Kirche zu binden und wird so etwa auch in den Regelungen zu entsprechenden Schritten durch Bischof Abraham in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts thematisiert (Text 3, S. 93). Ebenfalls fassbar werden zudem beispielsweise die Praxis des Schatzwurfs in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts (Text 15, S. 100), Ordale (Text 99, S. 140–141; Text 112, S. 147; Text 185, S. 186–187), Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Zensualität (Notiz über die Nachkommen der Zensualin Chuniza über vier Generationen aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, Text 148, S. 168–169) sowie Pläne zu Pilgerreise und Klostereintritt zweier Brüder im 12. Jahrhundert (Text 110, S. 145–146). Der häufig in den Eintragungen erwähnte zu erbringende oder erbrachte Nachweis der Zensualität bzw. die im Amtsbuch vermerkte Zugehörigkeit zu den Zensualen unterstreicht die Bedeutung, die dies für die Betroffenen wie für die Freisinger Verwaltung hatte. Nicht zuletzt der für die Geschichte der frühen Stauferzeit mit seinen beiden Geschichtswerken immer wieder als »Kronzeuge« vieler Ereignisse und Prozesse herangezogene Bischof Otto tritt in diesem Kontext als auf lokaler und regionaler Ebene aktiver Akteur hervor, der sich nicht primär mit Königswahlen und Kreuzzügen, sondern mit dem Schutz seiner Zensualen vor Ansprüchen Dritter befasst (z. B. Text 133, S. 158–159). Viele dieser Aspekte muss sich der Leser bedauerlicherweise jedoch selbst erschließen, da zwar ein Personen- und Orts-, aber kein Sachregister vorhanden ist.
Trotzdem macht schon eine kursorische Durchsicht der Einträge im Freisinger Amtsbuch deutlich, welchen Quellenschatz Adelheid Krah der Forschung mit ihrer Edition zur Verfügung gestellt hat. Es bleibt zu hoffen, dass aus diesem weidlich geschöpft wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Benjamin Müsegades, Rezension von/compte rendu de: Adelheid Krah, Unter dem Schutz der hl. Maria. Bodenkultur, Zins und Frauenarbeit im Amtsbuch der Zensualinnen und Zensualen des Bistums Freising (10.–14. Jahrhundert), München (VDS – Verlagsdruckerei Schmidt) 2023, 388 S. (Studien zur altbayrischen Kirchengeschichte, 19), ISBN 978-3-96049-124-8, EUR 27,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106299