Die Erforschung der päpstlichen Pönitentiarie, des seit dem 13. Jahrhundert für die Vergabe päpstlicher Gnaden wichtigsten römischen Dikasteriums, hat in ihrer noch jungen Geschichte immer wieder entscheidende Impulse durch groß angelegte Quellenpublikationen erhalten. Nach der späten Öffnung des Archivs für die Forschung veröffentlichte Filippo Tamburini 1995 einen ersten Band mit Quelleneditionen aus den Supplikenregistern.1 Er führte beispielhaft vor Augen, welche thematische Bandbreite und Fülle historischer Information das Pönitentiariematerial bereithielt, und ließ erahnen, welches Potential in einer systematischen Aufbereitung der Archivbestände lag. Das von Ludwig Schmugge zwischen 1996 und 2018 in stattlichen elf Bänden veröffentlichte Repertorium Poenitentiariae Germanicum mit Einträgen zu sämtlichen Suppliken von Bittstellern aus dem Reich und die zahlreichen daraus hervorgegangenen Publikationen stellten dies eindrücklich unter Beweis. Die Reihe ist als reichhaltiger Fundus prosopographischer Informationen aus der historischen Forschung zum deutschen Spätmittelalter heute nicht mehr wegzudenken.
Das Repertorium war zugleich Vorbild für weitere regionale und nationale Editionsunternehmen zu den römischen Supplikenregistern, die von Élisabeth Lusset in ihrer Einleitung zur Forschungsgeschichte der päpstlichen Institution vorgestellt werden (vgl. 7–13). Mit dem von ihr gemeinsam mit Clément Pieyre vorgelegten Band von 287 in Gänze transkribierten Gesuchen aus der Rubrik de declaratoriis der Supplikenregister der Pönitentiarie unter dem Pontifikat Innozenz’ VIII. (1484–1492) werden diese nun um ein gewichtiges Werk für den französischen Raum erweitert. In ihrer Einleitung folgt auf den forschungsgeschichtlichen Überblick zunächst eine Einordnung des edierten Materials in den historischen Kontext der Beziehungen zwischen Frankreich und dem apostolischen Stuhl während des Pontifikats Innozenz’ VIII. wie auch der kriegerischen Auseinandersetzungen im Frankreich der 1480er-Jahre (13–16). Der geographische Rahmen der Unternehmung wird abgesteckt und mit einer Auswertung der räumlichen Verteilung der Bittgesuche nach Diözesen und Kirchenprovinzen verbunden (16–20). Für den untersuchten Pontifikat werden Kanzleigang und Personal der Pönitentiarie mit einem besonderen Augenmerk auf die Logiken der Registerführung vorgestellt (20–30).
Mit der Konzentration allein auf Fälle de declaratoriis heben sich die beiden Herausgeber von bisherigen Editionen aus den Supplikenregistern der Pönitentiarie ab. Hierbei ging es den Petenten nämlich nicht um die Erreichung einer päpstlichen Gnade im Sinne der ausnahmsweisen Duldung eines Bruchs mit dem geltenden kanonischen Recht. Vielmehr zielten diese Gesuche auf die höchstinstanzliche Sanktionierung der rechtlichen Einordnung eines Sachverhalts ab. Was dies im Einzelnen bedeutet und welchen besonderen Wert diese Art von Gesuchen ihrer detailreichen narratio wegen nicht nur für rechtsgeschichtlich orientierte Forschungen darstellt, führt Lusset im abschließenden Teil ihrer Einleitung aus, der eine Typologie der im vorliegenden Band versammelten Fälle de declaratoriis bietet (31–50). Neben vereinzelten Einträgen, die Simonie, Illegitimität oder Exkommunikation betreffen, sind dies vor allem Gesuche von Klerikern in Zusammenhang mit Mordvorwürfen (70 % der edierten de declaratoriis-Suppliken). Ihre hohe Zahl erklärt sich aus der gravierenden, daraus resultierenden Konsequenz der Irregularität, mit der den geistlichen Petenten das Ende der kirchlichen Karriere drohte. Anlass für den Bittgang konnte ein laufendes Verfahren oder auch das Aufkommen entsprechender Gerüchte (fama publica) sein, die häufig in einem nächsten Schritt zur Einleitung von Verfahren der lokalen geistlichen Gerichte ex officio führten. Die Schilderungen der Bittgesuche bieten dabei zweierlei: einerseits, eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Mordbegriff des kanonischen Rechts, die von Fragen der Intentionalität und damit verbunden der legitimen oder illegitimen Umstände, über solche der Unzurechnungsfähigkeit bis hin zu Notwehr reichte; andererseits, ein reiches Tableau der Spannung zwischen den das geistliche Leben regierenden Normen und seiner Realität. Noch ein gutes Fünftel der Gesuche betrifft Ehesachen, sei es, dass gegen das Vorhandensein einer vermeintlichen Ehe oder gegen die Infragestellung einer bestehenden Ehe protestiert wird. Auch hier bieten die de declaratoriis-Fälle einen guten Indikator für verbreitete Unsicherheiten im Rechtswissen der Zeit. So wurde häufiger das Vorliegen des Ehehindernisses der geistlichen Verwandtschaft kontestiert, das von der verbreiteten Unsicherheit darüber zeugt, welche der beim zeremoniellen Akt der Taufe Anwesenden als Taufpaten gelten, über die ein solches Hindernis verläuft. An dritter Stelle rangieren schließlich Ordensgelübde betreffende Schreiben (ca. 8 %). Oft genug waren diese Gesuche mit Eheplänen oder erfolgten Eheschließungen verbunden und machten für die Gültigkeit der Verbindung die Entkräftigung eines vorangegangenen Gelübdes notwendig. Zwang und Furcht oder Minderjährigkeit konnten als valide Gründe in Bittgesuchen angeführt werden, die mitunter viele Jahre nach den Geschehnissen datierten, wovon eine im Rahmen eines Erbstreits aufgesetzte Supplik zeugt. Lusset verweist dabei für einzelne Fälle auch auf die Verfahrensüberlieferung vor Ort (vgl. z. B. 44–45), Logiken hinter der Kombination von Bittschriften an Papst und französischen König zugleich (36–38).
Den Einträgen in den Supplikenregistern selbst sind umfangreiche Regesten vorangestellt. Hilfreich ist die Identifikation zahlreicher Protagonisten und der genannten Ortschaften anhand ihrer heutigen Lokalisierung mithilfe des Code INSEE. Ein Orts-, Personen- und Sachregister runden den Band ab und erleichtern der künftigen Forschung die Nutzung dieses reichhaltigen Fundus, von dem Studien zur französischen Kirchen-, Politik-, Rechts-, Sozial- und Alltagsgeschichte gleichermaßen werden profitieren können.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jasmin Hauck, Rezension von/compte rendu de: Élisabeth Lusset, Clément Pieyre, La Pénitencerie apostolique sous Innocent VIII (1484–1492). Les suppliques de declaratoriis du royaume de France, Rome (École française de Rome) 2024, 520 p. (Sources et documents, 13), ISBN 978-2-7283-1806-3, EUR 42,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106301