Sein Inhalt und seine historische Verortung verleihen dem Liber augmenti et diminutionis (LAD) innerhalb der mathematischen Literatur einen hohen Rang. Der Text reiht sich in die lateinischen Übersetzungen arabischer Werke ein, die im Lauf des 12. Jahrhunderts in Andalusien angefertigt wurden. Die Verbreitung dieser Texte inspirierte in der folgenden Epoche die Wissenschaft in Mitteleuropa. Der Gegenstand des Textes, die Lösung linearer Gleichungen, wird primär mit der Methode des doppelten falschen Ansatzes und in fast allen Beispielaufgaben zusätzlich mit den Methoden der Algebra gelehrt. Der LAD gehört damit zu den Vorbildern für die Behandlung dieser Thematik in den Rechenschulen Mitteleuropas. Die Herstellung einer neuen Textausgabe 186 Jahre nach der Erstedition durch Guglielmo Libri (1838) verlangt dementsprechend keine besondere Rechtfertigung. Für den Leser ist es trotzdem erhellend, dass sich Moyon in einem eigenen Kapitel mit den Unzulänglichkeiten der alten Ausgabe auseinandersetzt. Immerhin war Libris Ausgabe, die auf der Transkription einer einzigen Handschrift beruht, bis jetzt brauchbar, denn die textliche Überlieferung ist unproblematisch. Eine überschaubare Anzahl substantieller Fehler korrigierte Barnabas Hughes in einem Aufsatz aus dem Jahr 2001. Ein fundamentaler Lesefehler von Libri wurde jedoch auch von Hughes nicht erkannt: Die regula transversa, eine Lösungsmethode, die im LAD eine zentrale Rolle spielt, erschien im Text von Libri als regula infusa. Die falsche Bezeichnung schleppte sich bis dato durch die einschlägige Literatur.
Hughes erweiterte in seiner Studie die Liste der Textzeugen von drei Handschriften der Bibliothèque nationale, die bereits Libri gekannt und genannt hatte, auf insgesamt sieben. Moyon macht allerdings deutlich, dass Hughes die erweiterte Handschriftenbasis unzureichend ausgewertet hat. Die etwas unglückliche Wahl der Siglen verbessert Moyon in naheliegender Weise mit D für die Dresdner und G für die Greifswalder Handschrift, sodass die alphabetische Reihenfolge dem Rang der Textzeugen in der Überlieferung entspricht. Nur ist ihm das Missgeschick unterlaufen, dass sich die Ausführungen zu Sigle F auf S. 9 eigentlich auf die Greifswalder Handschrift (G) beziehen.
Hughes | Moyon | ||
---|---|---|---|
Paris Lat. 9335 | A | B | |
Paris Lat. 7377A | A | B | |
Cambridge Mm. 2. 18 | C | C | |
Paris Lat. 7266 | E | E | |
Dresden C 80 | G | D | |
Paris Lat. 15120 | D | F | |
Greifswald 742 | F | G |
Wer eine Antwort auf die Frage nach dem Autor erwartet, muss enttäuscht werden. Moyon stellt klar, dass wir den arabischen Originaltext nicht kennen und dem Autor, der in der Übersetzung als Abraham erscheint, bis heute nicht nähergekommen sind – im Gegenteil: Mit unserem Wissen wächst die Anzahl von Personen, die für eine Autorschaft in Frage kommen. Damit verblassen ältere Vermutungen, die in dieser Ausgabe zurecht nicht mehr aufgegriffen werden.
Der Übersetzer erschließt sich umso klarer aus dem Überlieferungszusammenhang und wird von Moyon hier nicht mehr in Frage gestellt. Drei Handschriften (A, B und C) überliefern den Text in einer festen Zusammenstellung aus fünf Texten, nämlich (1) der Algebra von Al-Ḫwārizmī in der Übersetzung des Gerhard von Cremona, (2) dem Liber mensurationum von Abū Bakr, (3) dem Liber Abuothmi, (4) dem Liber Aderameti und (5) dem LAD. Gerhard von Cremona steht als Übersetzer aller fünf Texte fest. Seine Algebra-Übersetzung (1) ist auch für sich breit überliefert, die Abfolge der übrigen Texte (2–5) ist in zwei weiteren Handschriften (E und D) konserviert, nur eine Handschrift (G) überliefert den LAD separat. Der siebte Textzeuge (F) bietet Auszüge aus diesem. Die drei Texte geometrischen Inhalts (2–4) kamen erstmals 1968/1969 in Aufsätzen von Hubert Busard zum Druck und erneut 2017 im Rahmen einer Monographie von Moyon (La géométrie de la mesure dans les traductions arabo-latines médiévales). Die vorliegende Ausgabe ist somit auch als Ergänzung dieser Arbeit anzusehen.
Handschrift F (jetzt online) enthält eine Aufgabensammlung mit einer zusammenhängenden Passage von elf ausgewählten Stücken aus dem LAD. Nach einem Inhaltsverzeichnis am Ende der Handschrift trug die Sammlung den Titel Pulvis mathematici (»Staub des Mathematikers«, gemeint ist das Rechnen auf dem arabischen Staubabakus). Die dortige Folioangabe »62« lässt erkennen, dass nur ein kleiner Teil der Sammlung erhalten ist (fol. 53r–57r in der aktuellen Folierung, fol. 78r–82r in der alten Zählung) und der größere Teil heute in der Handschrift fehlt (fol. 62r–77v in der alten Zählung). Moyons Angabe »[62r–77v ?]« in der Tabelle auf S. 7 ist so zu verstehen, dass in dem verlorenen Teil der Sammlung möglicherweise Stücke aus den erwähnten Texten zur Geometrie (2–4) vorhanden waren. Diese Vermutung ist jedoch sehr hypothetisch und wird nicht weiter begründet.
Die Überlieferung im Dresdner Codex C 80 wirft die Frage auf, welche Rolle die Rezeption des LAD für die Entwicklung der Algebra im Umfeld der Universitäten Erfurt und Leipzig spielte. Moyon zeigt insbesondere im Zusammenhang mit der regula transversa mögliche Bezugnahmen im Werk von Johannes Widmann auf (121, 125 und 186). Für weitere Untersuchungen zu den Einflüssen auf Widmann oder Adam Ries, beide nachweislich Vorbesitzer und Benutzer der Handschrift, schafft die Ausgabe beste Voraussetzungen.
Auf die knapp gefassten, einführenden Abschnitte zu Text und Überlieferung folgt zunächst die kritische Edition des lateinischen Textes mit detaillierter Verzeichnung der Varianten, die überwiegend den unterschiedlichen Formen der Zahldarstellung Rechnung tragen und kaum von inhaltlicher Relevanz sind. Die anschließende Übersetzung ins Französische ist mit Kommentaren angereichert, die insbesondere auf das Fachvokabular und seine Entsprechung im Arabischen eingehen. Der folgende mathematische Kommentar beschreibt zunächst die hauptsächlich angewandten Lösungsmethoden des (einfachen und doppelten) falschen Ansatzes und der erwähnten regula transversa. Anschließend wird jedes einzelne der 39 Stücke unter Verwendung moderner Symbolik im Detail nachvollzogen. Zwei tabellarische Übersichten erschließen das Material systematisch nach Aufgabenstellung und Lösungsmethode. Die Bibliographie sowie ein äußerst knapp gehaltener Index beschließen den Band.
Die fehlende Erschließung des Vokabulars in einem alphabetischen Verzeichnis ist vielleicht zu verschmerzen, weil die Anzahl interessanter Wörter und Begriffe überschaubar zu sein scheint. Einige Auffälligkeiten und zentrale Begrifflichkeiten seien hier zusammengestellt: Die titelgebende Junktur numeratio secundum augmentum et diminutionem »Abzählung nach Zuwachs und Minderung« beschreibt die Methode des doppelten falschen Ansatzes. Mit lanx (prima/secunda) »(erste/zweite) Waagschale« werden die beiden willkürlichen Werte in den falschen Ansätzen bezeichnet. Der Begriff census »Gut« steht für die gesuchte Größe und nicht, wie in den algebraischen Texten, für das Quadrat der Unbekannten. Das gesuchte Gut ist meist als Geldbetrag zu verstehen, wobei dragma »Drachme« als die rechnerische Einheit fungiert. Wo die algebraische Methode zum Einsatz kommt, werden die üblichen Bezeichnungen res (ignota) »(unbekanntes) Ding« für die Unbekannte und dragma für die Einheit als absolute Zahl verwendet. In den Aufgaben zu Tausch (cambitio, #29) und Wechsel (cambium, #32) ist die unklassische Wortfamilie um cambire »wechseln« und cambitor »Wechsler« zu finden, die sich im Vokabular des kaufmännischen Rechnens etablierte. In #32 geht es um zwei Goldmünzen mit unterschiedlichem Wert, melichinus und revelatus, von denen man die eine als melequinus aus dem almoravidischen Spanien (11./12. Jahrhundert) kennt. Eine direkte Übernahme aus dem Arabischen ist das Getreidemaß caficius (nicht caficium, wie 107, Anm. 40 fälschlich angegeben) in #30 und #33. Bei misura (73, Zeile 949) handelt es sich um einen Lesefehler, der von Libri übernommen wurde. Stichproben in Handschriften, die online zugänglich sind (A132vb, B67r, D405r), zeigen unstrittig mensura, wobei die Silbe men stets durch m mit Kürzungsstrich dargestellt ist.
Der vorliegende Band präsentiert eine nützliche und solide Arbeit. Sie erfüllt ihren Zweck, dadurch dass sie den Zugang zu einem wichtigen Text wesentlich erleichtert und gegenüber der alten Ausgabe eine Reihe von Verbesserungen bietet.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Martin Hellmann, Rezension von/compte rendu de: Marc Moyon, Le Liber augmenti et diminutionis. Contribution à l’histoire des mathématiques médiévales, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2023, 208 p. (Boethius, 73), ISBN 978-3-515-13573-3, EUR 52,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106302