Die nach dem umbrischen Kloster S. Croce di Fonte Avellana (der einstigen Heimat der ältesten Handschrift Vat. lat. 4961) benannte Collectio Avellana teilt das Schicksal vieler Sammelwerke spätantiker Dokumente. Obwohl 1895/1898 der Danziger Stadtbibliothekar Otto Günther (1864–1924) eine nach wie vor mustergültige kritische Edition im Wiener Kirchenväterkorpus (CSEL 35/1–2; mit umfangreichen Indices in Bd. 2, 802–976) und begleitende Avellana‑Studien vorlegte (Wien 1896), wurden zwar immer wieder einzelne wichtige Stücke der Sammlung behandelt, aber es fehlte lange eine systematische Behandlung der Collectio als Ganzes. Eine Ausnahme bildet lediglich in gewisser Weise (wie oft) Eduard Schwartz, der sich allerdings eher Dokumentenzusammenstellungen widmet, die Parallelüberlieferungen zu einigen Dokumenten der Avellana bieten (Publizistische Sammlungen zum Acacianischen Schisma, München 1934 [Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philologisch-Historische Klasse. Neue Folge, 10], bes. 161–170).

Im deutschen Sprachraum veröffentlichte zuletzt Frank M. Ausbüttel eine kommentierte deutsche Übersetzung der Dokumente 1–37, die sich mit drei Auseinandersetzungen um die Besetzung des römischen Bischofsamtes verbinden (dem Felicianischen, Ursinianischen und Eulalianischen Schisma: Der Streit um den Papstthron. Schismen in der Spätantike. Studien zur Collectio Avellana, Darmstadt 2022 [Texte zur Forschung, 114]). Das älteste Stück der 244 jeweils in voller Länge kopierten Dokumente der Collectio ist ein Reskript Valentinians I. aus dem Jahr 368 n. Chr., das jüngste ein Brief des römischen Bischofs Vigilius an Justinian vom 14. Mai 553. Ob man in Anbetracht der großen Menge von Briefen von einer Briefsammlung sprechen sollte, ist angesichts der verschiedenen Genres der Dokumente (epistulae, rescripta, mandata, edicta und orationes) umstritten.

2011 fand sich auf der Oxforder Konferenz für Patristische Studien eine Gruppe zu einem – auch auf einer Homepage1 ansatzweise dokumentierten und sehr wünschenswerten – Projekt der englischen Übersetzung und Kommentierung der Sammlung zusammen, das allerdings noch nicht zum Abschluss gekommen ist und vor allem durch gemeinsame Konferenzen an die Öffentlichkeit getreten ist. Anzuzeigen ist hier eine Sammlung von Studien, die auf der vierten Konferenz des Teams (La Banda Avellana) beruht. Sie wurde 2019 in Perugia, Spello und im namensgebenden Kloster S. Croce di Fonte Avellana organisiert. Die voraufgehenden Konferenzen der Jahre 2011 und 2013 sind zwar mit den jeweiligen Programmen auf der Homepage dokumentiert, aber (noch?) nicht vollständig veröffentlicht. Einen ersten Überblick über Ergebnisse des Projektes lieferte die in Perugia lehrende Althistorikerin Rita Lizzi Testa, die auch den hier anzuzeigenden Sammelband herausgab, vor zehn Jahren: »La Collectio Avellana e le collezioni canoniche romane e italiche del V–VI secolo: un progetto di ricerca«, con Appendice a cura di Giulia Marconi, Silvia Margutti, in: Cristianesimo nella Storia 35 (2014), 77–236. Hier wurde auch erstmals die Collectio in den Zusammenhang einer aktualisierten Liste von aus Sicht der Gruppe vergleichbaren, mit kirchenrechtlicher und bzw. oder kirchenpolitischer Zwecksetzung erstellten Sammlungen der Zeit (von Marconi und Margutti: ebd., 103–236) gestellt. Von einer weiteren Tagung 2016 sind die Vorträge bereits publiziert, in einem Heft der Zeitschrift Cristianesimo nella storia (39 [2018]) sowie einem Sammelband: Rita Lizzi Testa, Giulia Marconi (eds.), The Collectio Avellana and its Revivals, Newcastle upon Tyne 2019.

Die genaue Nachzeichnung der Vorgeschichte des Bandes von 2023 ist notwendig, weil sich in den voraufgehenden Veröffentlichungen die ersten Argumente und begleitenden Untersuchungen (beispielsweise zur mittelalterlichen Geschichte der Handschriften und ihrer Verwendung im Investiturstreit) für die Thesen finden, die im anzuzeigenden Band mehr oder weniger vorausgesetzt sind. Denn Frau Lizza Testa präsentierte erstmals 2016 ihre kühne Hypothese, dass die Collectio Avellana im Kern auf Teilsammlungen zurückgeht, die 553 n. Chr. durch den spätantiken Politiker und Universalgelehrten Cassiodor während seines Aufenthaltes in Konstantinopel zu einer Art privater Dokumentensammlung im Handbuchformat zusammengefügt wurden. Für diese Hypothese können nur allgemeine Indizien angeführt werden, aber keine eindeutigen Belege aus der Sammlung oder anderer spätantiker Literatur. Später wurde die nach Lizza Testa so eng mit Cassiodor verbundene Collectio allerdings noch durch weitere Teilsammlungen erweitert, ohne dass bisher wirklich deutlich werden konnte, worin nach Ansicht der am Projekt Beteiligten diese späteren Erweiterungen genau bestanden und wann präzise sie abgeschlossen wurden (Paola Paolucci nimmt an, erst die Schreiber der mittelalterlichen Handschriften hätten die Teilsammlungen vereinigt: 73–84). Auch bleibt offen, ob die Banda Avellana die sechs von Günther unterschiedenen Teilsammlungen (collectiunculae: CSEL 35/1, III) für sechs ursprünglich unabhängige Teilsammlungen oder nur für Abschnitte größerer Teilsammlungen hält. Hier ist also noch allerlei weitere Forschungsarbeit notwendig, bis ein klares und überzeugendes neues Bild der Entstehungsgeschichte der heutigen Collectio Avellana entworfen werden kann.

Im vorliegenden Band wird weiter für eine Verbindung von Teilsammlungen der Collectio Avellana mit Cassiodor argumentiert. Dazu werden Abschnitte aus dem Leben Cassiodors so rekonstruiert, dass die entsprechende Hypothese Sinn ergibt (durch Pierfrancesco Porena, »La seconda vita di Cassiodoro e la Collectio Avellana«, 35–72). Allerdings müssen die ersten Jahre nach der Aufgabe seiner politischen Karriere (538/540–549 n. Chr.) weitgehend im Dunkel bleiben, erst dann taucht Cassiodor 550 n. Chr. als vir religiosus in Begleitung des römischen Bischofs Vigilius in Konstantinopel auf. In die Lücke postuliert Porena eine Zeit für das Studium und die Kopie von Dokumenten, die Eingang in Teilsammlungen der späteren Collectio Avellana gefunden haben, und loziert diese Tätigkeiten in Rom (nämlich 545–547 n. Chr.: ebd., 69). Vor allem aber das lange Dokument 83 der heutigen Sammlung, das Constitutum I des Vigilius (CSEL 35/1, 230,19‑320,11 Günther) wurde erst später in Konstantinopel eingefügt. Die Collectio selbst diente dann dort als eine Handaktensammlung für die Debatten zwischen Vigilius und dem Kaiser Justinian (15). Später machte sie es durch die spezifische Auswahl ihrer Dokumente den Nutzenden möglich, das Andenken des 555 gestorbenen Papstes Vigilius weiterhin in einem positiven Sinne zu prägen und die Autorität des römischen Bischofsstuhls zu stabilisieren. Schließlich wurde sie als kirchenrechtliche Belegsammlung verwendet, wie auch die Marginalien am Rande der beiden heute im Vatikan aufbewahrten ältesten Handschriften des elften Jahrhunderts dokumentieren (neben dem Vat. lat. 3787 der Vat. lat. 4961).

In seinem zweiten und dritten Teil konzentriert sich der Band auf die notarii und ihre Funktion für die Entstehung und Weiterverbreitung dieser Sammlung und vergleichbarer collectiones. Dabei wird schon in der Kaiserzeit angesetzt und nach dem sozialen Status sowie der Einbindung dieser Berufsgruppe in den kaiserlichen Hof gefragt. Allerdings werden auch die kirchlichen Kanzleien in den Blick genommen und die Differenzierung zwischen exceptores und notarii und ihre Funktion für bestimmte bekannte Sammlungen wie die Acta martyrum (so beispielsweise Michel-Yves Perrin, 325–337, bes. 336–337). Der Band dokumentiert (vor allem am Beispiel von Inschriften und anderem prosopographisch auswertbaren Material) das steigende soziale Ansehen und den zunehmenden politischen Einfluss vor allem im Westen des Imperiums seit dem vierten Jahrhundert. Bei Cassiodor schließlich wird der Kopist weniger als notarius, als scriba oder exceptor verstanden, sondern als antiquarius (Cassiodor, inst. praef. und I 30,1 [Fontes Christiani 39/1, 92,1–110,12 sowie 266,20–268,24 Mynors/Bürsgens]), der nicht mechanisch kopiert (und gegebenenfalls orthographisch korrigiert, indiziert sowie ästhetisch anreichert), sondern gezielt fehlende Dokumente und Manuskripte für die Bibliothek der Institution oder des Auftraggebers ermittelt, abschreibt oder erwirbt. Als solcher ist er ein antiquarius domini, der dem Teufel mit jedem Wort neue Wunden zufügt (so in Interpretation von Cassiodor, inst. I 30,1). Und es muss durchaus nicht immer ein Kleriker sein, sondern kann auch jemand aus der Verwaltung, beim Senat oder am Kaiserhof sein.

In diesem Rahmen werden unter anderem das Konzil von Chalkedon und seine Aktenüberlieferung (Joachim Szidat, 259‑268), die Konstantinopolitaner Synode unter Patriarch Menas 536 n. Chr. (Sylvain Destephen, 427–452) oder das registrum epistolarum des Papstes Gregor des Großen (Elena Caliri, 453‑473) mehr oder weniger gründlich von den Beitragenden ausgewertet. Dadurch hat der Band in seinem zweiten und dritten Teil Züge eines Kompendiums zum Berufsstand der notarii und verwandter Professionen wie den exceptores in der Spätantike. Bemerkenswerterweise wird das starke Anwachsen des entsprechenden Personals (gleichsam von Synode zu Synode: 437–438) nicht unter dem Stichwort »Bürokratisierung« verhandelt, obwohl Sylvain Destephen im Titel seines Beitrags von »Ecclesiastical Bureaucracy« spricht.

Es geht aber im Band nicht nur um die Personen und Tätigkeiten der verschiedenen Schreiber bzw. Kopisten, sondern auch um die damit verbundenen Reiseschicksale der Dokumente und die Prosopographie der dabei involvierten Personen, vor allem bei Noel Lenski, »Moving the Mail: The Status and Operations of Letter Carriers in the Collectio Avellana«, 507–563. Lenski steuert einen sehr umfangreichen, aber auch umfassenden Beitrag zu der Beförderung von Briefen, Briefboten, Beförderungsdauer sowie Beförderungsrouten bei, soweit dies aus der Collectio Avellana erhellt werden kann (mit diversen instruktiven Tabellen sowie verschiedenen prosopographischen Anhängen: 533–563).

Rita Lizzi Testa fasst schließlich die Ergebnisse des Bandes aus ihrer Sicht nochmals in hilfreichen »concluding remarks« zusammen (565–570). Ein umfangreiches Gesamtliteraturverzeichnis sowie ein Index der Eigennamen beschließen den Band.

Diese an Anregungen und Einsichten reiche Veröffentlichung wird sicher nicht der letzte Band sein, den die Forschendengruppe zur Collectio Avellana publiziert; dazu sind einerseits noch zu viele Fragen offen, andererseits steht aber zu erwarten, dass sorgfältige Analysen noch weitere Klarheiten bringen werden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christoph Markschies, Rezension von/compte rendu de: Rita Lizzi Testa, Giulia Marconi (dir.), The Collectio Avellana and the Development of Notarial Practices in Late Antiquity, Turnhout (Brepols) 2023, 672 p. (Giornale italiano di filologia. Bibliotheca, 31), ISBN 978-2-503-58836-0, EUR 115,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106340