Der vorliegende Band dokumentiert Beiträge von den Tagungen des Theologischen Arbeitskreises für Reformationsgeschichtliche Forschungen (TARF) seit dem Jahr 2008. Daraus ergibt sich auf knapp 700 Seiten in 27 Einzelstudien ein imposantes Bild der großen inhaltlichen Weite der dort betriebenen Forschungen, gerade im zeitlichen Umfeld der Reformationsdekade. Angesichts dieser Vielfalt ist die Einleitung der Herausgeber folgerichtig bemüht, die vielen Blüten zu einem Blumenstrauß zusammenzubinden. Die zu beobachtenden »Transformationsvorgänge« (12) rund um die Wittenberger Reformation werden dabei so weit gefasst, dass es kaum ein reformationsgeschichtliches Thema geben dürfte, das nicht auf die eine oder andere Weise in diesem Band hätte Platz finden können.

Ob und inwiefern solche monumentalen Zusammenführungen sehr divergenter Forschungsbeiträge zu hohen Preisen überhaupt noch in Buchform erfolgen müssen, sei für den Augenblick dahingestellt. Zumal einzelne Beiträge auch schon an anderen Orten publiziert wurden und der im Untertitel angedeutete Fokus auf die Wittenberger Universität als Institution nur in einem sehr geringen Teil der Beiträge als eigener Schwerpunkt explizit erkennbar wird. Jedenfalls ist es angezeigt, in einer Rezension nun einzelne Artikel hervorzuheben.

In mustergültiger Weise geht Jyrki Knuutila der im Untertitel vorgegebenen Stoßrichtung nach. Der inzwischen emeritierte Theologieprofessor aus Helsinki weist in seiner Untersuchung über die Reformation in Finnland nach, dass nicht nur der Reformator Mikael Agricola in Wittenberg studierte (1536–1539), sondern auch weitere finnische Studenten im Laufe der Jahre dort ihre Ausbildung erhielten (335). Die tabellarischen Übersichten (etwa S. 340) lassen akademische Präferenzen und soziale Hintergründe über den Verlauf eines guten Jahrhunderts sofort erkennen. Auffällig ist, dass gegen Ende der 1520er-Jahre die Zahl der finnnischen Studenten zunahm (344) und bis zu Luthers Tod hoch blieb (348). Hier kann wahrgenommen werden, dass diese finnischen Studenten eben nicht den »frühen« Luther kennenlernten. Sie begegneten und hörten vielmehr den Luther der großen Genesis-Vorlesung. Auch wenn Knuutila nicht immer die terminologischen Debatten der deutschen Theologiegeschichte zu kennen scheint (etwa »frühorthodox« 351), ist ihm für den kenntnisreichen Beitrag sehr zu danken.

Neben der »Europäisierung« der Reformationsgeschichte lassen sich auch weitere Forschungstrends der letzten beiden Jahrzehnte erkennen. Nach einem Blick auf die Waldenser (Albert de Lange) und den Hussitismus (Martin Wernisch) beschäftigt sich etwa Volker Leppin im dritten Aufsatz des Bandes mit Katechismen im späten Mittelalter. Unter Rückgriff auf Berndt Hamms Konzept der »Frömmigkeitstheologie« (72 u. ö.) erfolgt ein flotter Ritt durch theologische Entwürfe vom Range eines Wilhelm von Ockham, Thomas von Aquin, Nikolaus von Dinkelsbühl oder Johannes Gerson, der in zwei Polaritäten ausmündet: dem »eher äußerlich-sakramentalen Typus« und dem »innerlich-mystischen Typus« innerhalb der Frömmigkeit des späten Mittelalters (82). Luthers Katechismen würden sich damit einer »reformatorischen Transformation der spätmittelalterlichen katechetischen Literatur« verdanken: »Ohne diese ist sie nicht erklärlich – aber durch sie allein auch nicht zureichend verstehbar« (85). Wer exemplarisch Leppins Ansatz der Reformationsdeutung kennenlernen möchte, wie er sich in den Debatten der letzten Jahre herausgebildet hat, wird hier fündig.

Über den deutschen Kontext hinaus geht auch der Beitrag von Peter Marshall: Der Professor von der Universität Warwick untersucht Kirchenordnungen im England des 16. Jahrhunderts. Dabei scheut er dankenswerterweise nicht davor zurück, das Geschehen mit klaren Thesen einzuordnen. Er wundert sich, dass England trotz früher Sympathie für die Reformation und renommierter Ausbildungsstätten keinen kreativen Theologen ersten Ranges hervorgebracht habe (414) und meint auch in den folgenden Jahren, eher einen »Staatsakt« als eine »protestantische Revolution« (416) erkennen zu können. 1543 etwa schränkte der Act for Advancement of True Religion sogar das Lesen der Bibel durch Laien nachdrücklich ein (ebd.). Darüber hinaus hätten Beiträge zur Kirchenordnung in England vor allem die reine Lehre und den Gottesdienst im Blick gehabt. Die Kirchenzucht hingegen sei kategorisch ausgeklammert worden: »wie einem kaputten Hocker fehlte das dritte Bein« (430). Damit habe es die englische Kirche verabsäumt, »ihre Identität klar zu definieren« (432). Nicht zuletzt deshalb sei der Konflikt im 17. Jahrhundert an genau dieser Frage erneut aufgebrochen.

Bemerkenswert ist auch der Beitrag von Günter Frank zu den »Loci theologici. Methodologische, historische und systematische Überlegungen zur Vorgeschichte der neuzeitlichen topischen Dogmatik«. Der Direktor der Europäischen Melanchthon-Akademie Bretten widmet sich in einer breiten Perspektive von Boethius über die mittelalterliche Tradition einer Linie, die in Melanchthon emündet. Diesen verortet er zunächst im »Kontext der aristotelischen, durch Cicero und Boethius vermittelten Tradition der Topik« (154). Sein Verfahren innerhalb der Loci communes habe jedoch dann zu einer Dogmatik geführt, »deren bestimmendes und alleiniges Prinzip das ›sola scriptura‹ zu sein scheint« (169). In der Vorrede zur dritten Auflage 1543 habe Melanchthon sich jedoch vom »strikten Schriftprinzip« abgewendet. Nur die eruditi sollten einen Lehrkonsens bilden, wie Melanchthon in humanistischer Tradition gefordert habe (170), womit die These von der Selbstauslegung der Schrift zumindest relativiert zu sein scheint. Es scheint kaum ein Zufall zu sein, dass im gleichen Jahr in England das Lesen der Bibel durch Laien eingeschränkt werden sollte, wie im oben erwähnten Beitrag von Peter Marshall gezeigt wurde. Diese bewegten Jahre wären definitiv weiterer Forschung wert.

Eine Vielzahl weiterer Beiträge, etwa zum Obrigkeitsverständnis von Bullinger im Vergleich mit Calvin (Peter Opitz), zur Entwicklung von Dialogflugschriften im Kontext des Disputationswesens (Susanne Schuster) oder zu Württembergischen Kirchenordnungen im 16. Jahrhundert (Christian Peters) hätten es ebenfalls verdient, eingehender vorgestellt zu werden. Das kann hier aber aus Platzgründen nicht geschehen. Zuletzt mündet der Band in systematisch-theologischen Beiträgen, hervorzuheben wären die Beiträge von Anne Käfer zum evangelischen Amtsverständnis und von Philipp Stoellger zur Sichtbarkeit des Evangeliums. Erneut wird damit in eindrücklicher Weise die gedankliche Weite der Forschungen innerhalb des TARF dokumentiert.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jan Reitzner, Rezension von/compte rendu de: Michael Beyer, Martin Hauger, Volker Leppin (Hg.), Ausstrahlung und Widerschein. Wahrnehmung und Wirkung der Wittenberger Universität im Europa des 16. Jahrhunderts, Leipzig (Evangelische Verlagsanstalt) 2023, 666 S., ISBN 978-3-374-07255-2, EUR 128,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106511