Die vorgelegte Publikation wurde als Dissertation bei Prof. Dr. Joachim Eibach eingereicht und von der Philosophisch‑Historischen Fakultät Bern angenommen. Sie befasst sich mit dem Geldstag, dem Konkursregime, in Bern. Wie im frühneuzeitlichen Deutschland war das Konkursregime in der frühneuzeitlichen Schweiz ein lokales, das sich von dem in anderen Schweizer Städten unterschied. Abgesehen von einigen kleineren thematisch eng umgrenzten Aspekten lag bislang keine umfassende Studie zum Berner Geldstag vor, der Autor betritt somit weitgehendes Neuland. Er konnte auf ein ausgesprochen umfangreiches und dichtes Quellenkorpus von insgesamt 567 Fällen zurückgreifen, die zwischen 1761 und 1889 stattfanden. Die lange Lebensdauer des Geldstags, selbst über die Epoche eines grundlegenden und umfassenden gesellschaftlichen Wandels hinweg, veranlasste den Autor zur Frage, wie dieses Regime über 150 Jahre, abgesehen von kleineren Modifikationen, überleben konnte und welche Faktoren zu seinem Überleben beitrugen. Die Untersuchung setzt mit dem Jahr 1761 ein, als eine bedeutsame Konsolidierung des weit älteren Berner Konkursrechts stattfand. Sie endet mit der Verabschiedung der Schweizer Bundesakte von 1889 und der Einführung eines einheitlichen bundesweit gültigen Konkursrechts.
Methodisch geht der Autor von einem praxeologischen Ansatz aus, indem er sich detailliert mit der Verfahrenspraxis befasst. Mit dem Konzept des »Doing bankruptcy« wendet er sich gegen das seiner Meinung nach international vorherrschende Konkursnarrativ, nach dem der Konkurs mit dem sozialen bzw. bürgerlichen Tod der Gescheiterten endete. Demgegenüber will der Autor aufzeigen, dass es sich bei dem Geldstag um ein ergebnisoffenes, egalitäres, solidarisches und sachlich prozessorientiertes Verfahren handelte, das auf einer breiten Akzeptanz in der Bevölkerung basierte. Das Verfahren endete auch keineswegs mit dem sozialen Tod, sondern den Gescheiterten bot es eine »hoffnungsvolle« Zukunft, bzw. machte die Zukunft »aushaltbar« (215).
Anzumerken ist im Hinblick auf seine Kritik an dem vorherrschenden Konkursnarrativ, dass sich seine Untersuchung mit Privatkonkursen mehrheitlich mittelständischer Haushalte befasst, während eine Mehrheit der Publikationen sich mit dem Scheitern von großen Unternehmen, häufig international agierenden Gesellschaften beschäftigt, deren Scheitern geografisch und sozio-ökonomisch schwerwiegendere Folgen hatte. Auch sie endeten keineswegs zwangsläufig mit dem sozialen Tod des/der Unternehmenseigner[s]. Bern gehörte nicht zu den international führenden Handels- und Industriestädten Europas, sondern besaß neben dem alteingesessenen Patriziat eine primär mittelständisch geprägte Gewerbelandschaft. Von daher kann Häusler eine wichtige Forschungslücke füllen.
Seine Untersuchung gliedert sich in vier Kapitel. Das erste beginnt mit einer statistischen Analyse der quantitativen Entwicklung der Geldstage während jener 150 Jahre. Es ist dem Autor ein Anliegen, diese Institution als integralen Teil der Wirtschaftsgeschichte und des Kapitalismus zu sehen. Er unterscheidet zwei Entwicklungsphasen, eine erste bis 1846 und nach einer kurzen Übergangsfrist von wenigen Jahren, eine zweite zwischen 1854 bis 1889. Neben einigen rechtlichen Anpassungen der Geldstagsbestimmungen zeichnet sich die zweite Phase durch eine quantitative Zunahme der Gescheiterten vor allem in den neuen durch die Industrialisierung geschaffenen Berufen und durch einen höheren Verschuldungsgrad aus.
In den nachfolgenden Kapiteln 3 bis 5 befasst sich der Autor – basierend auf dem Luhmannschen bzw. Stolberg-Rillingerschen Verfahrensmodell – detailliert mit dem Prozessverfahren. Kernelemente, an denen er die anhaltend breite Akzeptanz der Institution festmacht, waren der Bilanzierungs- und der Versteigerungsprozess. An beiden Verfahren waren nicht nur die Öffentlichkeit beteiligt, sondern auch die Schuldner. Letztere hatten bei der Bilanzierung des Soll und Habens ein Mitspracherecht und konnten auch bei der Versteigerung mitbieten. Er zeigt auf, dass das Geldstagsverfahren ein ergebnisoffenes und gleichsam modernes war, das sachlich prozessorientiert, egalitär und solidarisch war. Es kam ohne strikte moralisch-normative Vorurteile der Gläubiger aus und verfolgte grundsätzlich keine Bestrafungsabsichten. Es war ein Verfahren, das nicht Schluss- und Endpunkt vergangener Fehlleistungen war, sondern die Schaffung einer »aushaltbaren Zukunft« für die Schuldner bezweckte.
Häuslers Untersuchung bietet einige aufschlussreiche Aspekte, gleichwohl bleiben durch die Fokussierung seiner Untersuchung auf den Verfahrensprozess einige Fragen offen. Während in der bisherigen Konkursforschung – insbesondere für das Zeitalter der Moralischen Ökonomie – den Ursachen eine entscheidende Bedeutung für den Ausgang eines Verfahrens eingeräumt wurde, findet dieser Aspekt bei Häusler kaum Erwähnung. Aus eben diesem Grund bleibt auch bei ihm außen vor, dass die Überlassung eines Existenzminimums (etwa das »Weibergut«) die Armenfürsorge der Stadt vor einer Überforderung schützte. Der Verfahrensabschluss beendete sicherlich eine Phase der wirtschaftlichen Unsicherheit und schuf eine neue prekäre Situation. Interessant wäre gewesen, ob die neue »Sicherheit« nach dem Verfahren und die von Häusler angenommene »Ermöglichung einer hoffnungsvollen Zukunft« für die Betroffenen denn auch realisiert werden konnten. Leider ist über das Leben nach dem Konkurs – von Einzelschicksalen abgesehen – zu wenig bekannt, weil die große Mehrheit der Betroffenen aus den Schriftquellen verschwindet.
Häusler zufolge stand der Geldstag, »der Gang in den Konkurs allen Schuldner*innen offen« (248). Seinen Ausführungen nach enthielt das alte Berner Recht kein separates Konkursrecht für Kaufleute vor der Einführung des Bundesgesetzes von 1889. Auch wenn es in Bern keine formale Differenzierung gab, so ist doch zu fragen, ob nicht die Praxis eine andere war und eine solche Differenzierung durchaus praktiziert wurde. Verwiesen sei hier auf den von Linder untersuchten Konkurs der Malacrida Bank. Dieser wurde nicht vor dem Geldstag sondern vor dem Berner Stadtrat (»Großer Rat«) verhandelt. Interessant wäre zu erfahren, ob nicht in den großen Krisen des 19. Jahrhunderts gleichfalls große gescheiterte Berner Unternehmen oder Banken vor dem Rat verhandelt wurden.
Von diesen Monita abgesehen ist es ein großes Verdienst dieser Arbeit, dass sie einen detaillierten und umfassenden Einblick in die lokale Konkurspraxis im Umgang mit der breiten Schicht weitgehend mittelständischer Haushalte gewährt. Ob diese Analyse zu einer Neuinterpretation der Konkursgeschichte (5) führt, sei dahingestellt. Gleichwohl bietet sie eine bedeutsame Erweiterung der bisherigen Forschungslandschaft, die auch neue Forschungsperspektiven eröffnet.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Margrit Schulte Beerbühl, Rezension von/compte rendu de: Eric Häusler, Ökonomisches Scheitern. Solidarische Praktiken in Bern 1750–1900, Bielefeld (transcript) 2023, 284 S., 20 s/w, 9 farb. Abb., ISBN 978-3-8376-6642-7, DOI 10.14361/9783839466421, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106518