Lisa Hecht und Hendrik Ziegler stellten 2021 die Frage, ob sich Queerness als Interpretationsmuster für die Kunst der Frühen Neuzeit eigne, in den Mittelpunkt einer Online-Tagung an der Philipps-Universität Marburg (5; 13). Die Ergebnisse dieser Tagung sind im letzten Jahr in einem, um weitere Studien erweiterten Sammelband dokumentiert worden. Die einzelnen Beiträge stellen einen »interpretierende[n] Nachvollzug von Kunstwerken unter einer queerenden Perspektive« zur Diskussion, der durch den realitätsüberschreitenden Charakter von Kunst denkbar werde (14). Dadurch sei es möglich, bestehende kunsthistorische Narrative zu hinterfragen (23). Die einzelnen Beiträge gliedern die Herausgeber in fünf Sektionen, die sie als 1. »Methode«, 2. »Liebe«, 3. »Religion«, 4. »Körper und Form«, 5. »Kleidung und Identität« betiteln.

Anne Söll eröffnet die Methodensektion mit einer Analyse von queer gruppierten frühneuzeitlichen Männerportraits des dänischen Künstlers Hendrik Olsen, die heteronormative Betrachtungsweisen der Gegenwart aufdecken sollen, die so in der Frühen Neuzeit noch nicht existierten (33). Um diese Heteronormativität zu überwinden, spricht sich Barbara Paul für ein Queering der Kunstwissenschaft insgesamt aus (53). Dafür plädiert auch Kerstin Brandes, die davon ausgeht, dass nicht die Kunstwerke selbst wesenhaft queer seien, sondern der Blick des Betrachters (62). Alle drei methodischen Beiträge argumentieren aus Sicht der Gegenwart; ein genuin historischer Ansatz zur Anwendung der Queer Theory fehlt. Dieser findet sich in den folgenden Sektionen, die eine mögliche Operationalisierung der Queer Theory diskutieren.

Elisabeth Priedel geht auf Basis der Forschungsliteratur davon aus, dass die Sichtweise der Renaissance auf die bildliche Darstellung von Geschlecht non-binär und fluide gewesen sei (67–68). Dementsprechend stellt Peter Bell eine sexuelle Uneindeutigkeit bei der Darstellung der Freundschaften des Herzogs von Modena, Borso d’Este, fest. Es sei jedoch nicht nachweisbar, ob die Inszenierung von Männerfreundschaften auf Homosexualtität schließen lasse (95–96). Das trifft auch auf Marianne Koos’ Untersuchung von Bernardino Luinis »Portrait eines Mannes mit Pfeilen im Körper« zu. Die Autorin warnt vor einer queerenden Lesart des Bildes, da es traditionelle Geschlechterentwürfe nur bedingt hinterfrage (113–115). Jenseits queerer Fragestellungen zeigt sie, wie die metaphorische Darstellung der Liebe im Bildnis lange Zeit als Heiliger Sebastian fehlgedeutet wurde (99–104).

Neben der Liebesdarstellung konnte auch die christliche Ikonografie sexueller Devianz Ausdruck verleihen, wie Hendrik Ziegler demonstriert. Dieses »Privileg des Göttlichen« habe die Repräsentation »queerer Lebensrealitäten und -praktiken« ermöglicht (129). Ein unbestreitbares Zeugnis dieser Queerness sind die Portraits der Heiligen Wilgefortis, die Doris Guth untersucht. Die Heilige ließ sich in der Legende mit göttlicher Hilfe einen Bart wachsen, um der Vermählung mit einem Heiden zu umgehen (131–143).

Das führt zu einer Reihe von fünf Studien zu »Körper und Form«, die unterschiedliche Arten von Kuriositäten in der Kunst der Frühen Neuzeit betrachten. Maurice Saß untersucht Körperbilder von Michelangelos »Leda und der Schwan«. Dabei kommt er zu dem Schluss, Queer Theory könne den Blick für non-binäre Körper in ihrer »Ambiguität wie Offenheit« schärfen und den »heteronormativen Charakter« kunsthistorischer Methoden hinterfragen (150). Martin Pozsgai fragt, ob sich die groteske Ornamentik der Frühen Neuzeit als queer beschreiben lasse. Er arbeitet heraus, dass während dem 16. und frühen 17. Jahrhundert hybride Körperbilder vorherrschten und sich erst im späteren 17. und 18. Jahrhundert eine klarere Trennung der Geschlechter herauskristallisierte (159). Auch bärtige Frauen schienen sich einer klaren Geschlechtszuordnung zu entziehen. Justus Lange gelingt es herauszuarbeiten, dass die Darstellungen dieser Frauen zwar als Kuriosität betrachtet wurden, sie aber dennoch weiblichen Rollenbildern entsprachen (180–181). Als Kuriositäten fungierten auch Hofzwerge, deren bildlicher Darstellung sich Lisa Hecht widmet. Die Wahrnehmung Kleinwüchsiger als monströse Normabweichung unterscheide sich von der Queerness, die »jede Kategorisierung« ablehne (199–200). Schließlich zeigt Meinrad von Engelberg anhand der Bautätigkeit der Markgräfinnen Sybilla Augusta von Baden-Baden und Wilhelmine von Bayreuth wie Lustschlösser hochadeligen Frauen Freiräume schufen, das Kuriose sichtbar zu machen (211).

Fünf weitere Beiträge zu »Kleidung und Identität« schließen den Band ab. Catarina Zimmermann-Homeyer untersucht die Buchillustration zu Terenz’ »Der Eunuch« um 1500. Der Eunuch sei als nicht-binäre Person mit Mönchen und Narren gleichgesetzt worden (233). Cornelia Logemann zeigt anhand der Maskeraden am französischen Königshof im frühen 16. Jahrhundert, dass das Spiel mit den Geschlechtern durch Verkleidung fester Bestandteil des höfischen Fests war. Erst gegen Ende des Jahrhunderts sei das höfische »Cross-dressing« ins Lächerliche gezogen und geschlechtliche Vereindeutigung eingefordert worden (258). Margit Kopp hingegen belegt mithilfe der häufigen Darstellungen Fürst Pauls I. Esterházy als Judith, dass der symbolische Geschlechterwechsel auch noch im 17. Jahrhundert ein funktionaler Teil adeliger Selbstinszenierung sein konnte. Die Verkleidung Pauls I. wurde hier als Apotheose des Abwehrkampfes gegen die Türken gelesen (280). Heteronormative Vereindeutigung lässt sich im 18. Jahrhundert sicher in England feststellen. Das demonstriert Ekaterini Kepetzis durch die Analyse von William Hogarths Bildzyklus »Taste in High Life«. Hier habe sich eine Grundlage zur Darstellung von Queerness im 19. Jahrhundert entwickelt (306). Lisa Hecht arbeitet im selben Zeitraum heraus, wie eine englische Satire mithilfe einer Zweiteilung von weiblich und männlich konnotierter Garderobe die geschlechtliche Ambiguität des Chevalier d’Eon evozierte. Die bildliche Klassifizierung von Geschlecht in der Frühen Neuzeit liefere eine Grundlage für heutige Sehgewohnheiten von Geschlechtlichkeit (313–314).

Der starke gegenwartspolitische Impetus einzelner Beiträge erscheint insbesondere aus geschichtswissenschaftlicher Sicht methodisch problematisch (vgl. bspw. 34; 55; 313, Fußnote 2 und das konsequente Gendern). So verhindert der Fokus auf gegenwärtige gesellschaftspolitische Bedürfnisse und Werte die Erkenntnis historischer Lebenswelten. Wohl aber kann das anachronistische Konzept der Queerness auf für uns heute fremde Wahrnehmungen von Körperlichkeit und Geschlecht in der Vergangenheit aufmerksam machen. Es ist der Verdienst des Bandes jenseits von gesellschaftspolitischen Anliegen der »Gender Studies« konventionelle Sehgewohnheiten der Frühneuzeitforschung zu hinterfragen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christian Mühling, Rezension von/compte rendu de: Lisa Hecht, Hendrik Ziegler (Hg.), Queerness in der Kunst der Frühen Neuzeit?, Köln (Böhlau Verlag Köln) 2023, 320 S., 106 Abb. (Studien zur Kunst, 50), ISBN 978-3-412-52766-2, EUR 55,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106519