Dieses Buch lässt sich mit seinem Stil und der lockeren Art der Zitation, die eher dem Diskursverweis dient, vor allem als ein Essayband beschreiben. Hans Peter Herrmann setzt sich dabei zum Ziel, eine Lücke in der Germanistik zu schließen, die vor allem die These erhärten soll, dass es sich bei der Einführung eines Diskurses über die »Nation« nicht um eine Vorgeschichte, sondern konkreter um die Anfänge des deutschen Nationalismus unter den Humanisten des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts handelt. Auch wenn die Angriffe auf die Geschichtswissenschaft, die das wenig gesehen oder behandelt hätte, ein wenig scharf erscheinen, gehört gerade die klare Kante zum Aufbau – und den Stärken – dieses Bandes. Der Nationalismus sei weniger ein »Narrativ« oder ein »Diskurs«, sondern ein umfassendes »Deutungsmuster« (bes. S. 19–20), wie Herrmann gleich in der Einleitung unterstreicht. Wer sich mit der hier im Fokus stehenden Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts beschäftigt hat, den werden dann die Belegstellen bei Konrad Celtis und seinen Zeitgenossen, die hier prominent ausgewertet werden, freilich ebenso wenig verwundern wie der Verweis auf die besondere Rolle Italiens für die Entwicklung dieser Gedanken.
In einem ersten Kapitel stellt das Buch vor, wie der politische Nationaldiskurs zunächst in Europa Fuß fassen konnte, wobei der wichtigste Aspekt der These darin besteht, dass diese neue Bezeichnung für zunächst alte politische Akteure vor allem säkular gewesen sei und gerade nicht vordringlich kulturell zu verstehen wäre (pointiert etwa S. 58–59 im Resümee des ersten Kapitels; die v. a. gegen Hans-Ulrich Wehler gerichtete Stoßrichtung aber auch mehrfach, etwa erneut S. 112). Von hier aus verfolgt das Buch in seinem zweiten Hauptkapitel die Entwicklung des deutschen Frühnationalismus – jetzt erst, um 1500, sei aus dem politischen Nationendiskurs des 15. Jahrhunderts auch die Vorstellung einer »kulturellen deutschen Nation« (61) entstanden. Der Gipfelpunkt dieser Entwicklung sei dann mit dem »militant-aggressiven Nationalismus« (115) Anfang des 16. Jahrhunderts erreicht gewesen, der sich in den Schriften Ulrich von Huttens Bahn gebrochen hätte und dem das dritte Hauptkapitel dieses Buches gewidmet ist.
Immer wieder würde man sich komplexere Verweise wünschen, die etwa die Diskussionen zur Ethnogenese in den letzten zwei Jahrzehnten reflektieren (vgl. S. 36–37) oder die Vorgeschichte der Stereotypen über »die« Deutschen auch im lateinischen Mittelalter stärker berücksichtigen; auch zu »Europa« ließe sich neben Johannes Helmrath etwa Klaus Oschema zitieren. Doch das geht am Punkt des Buches vorbei, das das Argument gegenüber der Vollständigkeit in den Vordergrund zieht. Gravierender erscheint, dass auch hier ein Argument vorgestellt wird, das mit seinen raschen Schlüssen seinerseits nicht immer überzeugen kann. Ein Beispiel: Dass »moderne Gesellschaften […] nicht nur durch Herrschaft (und nicht mehr durch Religion), sondern auch durch eine gemeinsame Kultur zusammengehalten« werden (113), gehört zu den unterkomplexen Formulierungen des Buches (wie würden sich etwa – um nur im näheren Umfeld zu bleiben – die Schweiz oder Belgien in dieses Konstrukt einfügen?). Hier aber liegt auch eine politische Kernbotschaft des Bandes, denn es geht Herrmann um die inkludierende, einende Qualität des Nationalismus, seine »produktive Potenz«, die gegenüber dem gegenwärtigen Diskurs über seine negativen, exkludierenden Folgen in den Hintergrund zu treten drohe (114).
Stilistisch lässt sich über das Buch sicherlich streiten; es ist unübersehbar ein Herzensanliegen des Autors, der über weite Strecken auch als Ich-Erzähler formuliert, was dem Buch ebenso den Anstrich eines Essays gibt. Gerade das ist offensichtlich genau so beabsichtigt, denn es geht explizit um einen Kommentar zur politischen Großwetterlage der Gegenwart. Ein prominent platziertes Detail unterstreicht diesen Eindruck, nämlich die nur wenig ausformulierte Bezugnahme auf den Ukrainekrieg Russlands. Hier scheint Hans Peter Herrmann die negativen Seiten der Nation am Werk zu sehen; dass er das vor allem auf ukrainischer Seite – und damit zwar implizit, aber nicht weniger ausdrücklich keineswegs auf russischer – verortet, vielmehr in seinem Schlusswort noch einmal erwähnt, dass »die Führungsschichten Europas« (das ist dann wohl nicht vordergründig Putin) das »Unerhörte« (gemeint ist wohl der Angriffskrieg Russlands) »nie hätten entstehen lassen dürfen«, während wir uns nicht verwundern dürften, dass die »nationalistische Form jedoch, mit der vor allem die Ukraine diesen Krieg führt«, nun auftauche (154), schadet dem Argument mehr als es ihm nützt. Warum sollte denn die zentrale Botschaft Herrmanns, dass die »Nation« als Deutungsmuster nach innen gesellschaftliche Gruppen stärkt und politische Akteure legitimiert, nach außen abschließt und oft aggressiv macht, nicht vielmehr in ganz besonderem Maße für das gegenwärtige Russland unter Vladimir Putin gelten? Verblüfft stellt man fest, dass Herrmann diese Dimension lieber unkommentiert lässt. Aber man muss das Buch keineswegs auf diesen Aspekt reduzieren; ein weniger aufgeregter, weniger persönlicher Ton und eine genauere Debatte der Gegenwart statt des oberflächlich belehrenden Raunens hätten dem Werk aber sehr gutgetan.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Romedio Schmitz-Esser, Rezension von/compte rendu de: Hans Peter Herrmann, Identität und Machtanspruch. Deutscher Frühnationalismus um 1500? Geschichte, Theorie und Wirkungsmechanismen, Göttingen (Wallstein) 2023, 176 S., 16 Abb., ISBN 978-3-8353-5474-6, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106521