Sag, wie hast du’s mit dem Begriff der Religion? Diese Variante der Gretchenfrage stellen seit einigen Jahrzehnten die Religionswissenschaft, die Anthropologie und die postkolonialen Studien. Zumeist geht es darum, aufzuzeigen, wie, wann, von wem und in welchen bestimmten – nicht selten imperialen – Kontexten essentialistische Konzepte von Religion als einem distinkten und universalen Aspekt der conditio humana geformt und gehandhabt wurden. Auf die Erforschung der europäischen Geschichte hat sich diese Debatte bisher kaum ausgewirkt, obwohl Europahistorikerinnen und -historiker sich schon lange lebhaft und ähnlich begriffskritisch an der »Volksreligion« abarbeiten. Insofern betritt Arthur McCalla, Professor für Geschichte und religious studies an der kanadischen Mount Saint Vincent University, Neuland mit seinem Versuch, den Religionsbegriff durch ein Stück französischer Ideengeschichte weiter zu »provinzialisieren« (407, unter expliziter Berufung auf Dipesh Chakrabarty). Statt sich also bestimmter Religionskonzepte zu analytischen Zwecken zu bedienen, macht McCalla ebensolche Konzepte zum Forschungsobjekt.

Auf diesem Weg gelangt er in Religion and the Post-Revolutionary Mind zu dem Argument, dass sich religionsphilosophisches und vor allem religionsgeschichtliches Denken in Frankreich zwischen ungefähr 1795 und 1830 auf äußerst intensive, vielfältige und – auch politisch – folgenreiche Weise vollzogen habe. Letztlich stehen »the various post-revolutionary conceptualizations of religion« laut McCalla für nichts Geringeres als für »rival forms of intellectual modernity« (7). Die besondere Bedeutung des Moments 1795–1830 im Nachdenken über Religion besteht in der Tat darin, dass zu jener Zeit alle Seiten grundlegende Lehren aus dem Riss zwischen der Revolution und der römisch-katholischen Kirche zogen, der sich ab 1791 abgezeichnet hatte und 1793/1794 dramatisch aufgebrochen war. Das Wesen von Religion und ihre gesellschaftliche Rolle standen nun dergestalt in Frage, dass sich kein politisches Regime und keine intellektuelle Strömung behaupten oder auch nur formieren konnte, ohne zum Verhältnis von Offenbarung, religiöser Subjektivität und menschlichem Zusammenleben neu Stellung zu beziehen. Der Untertitel des Buchs verweist auf drei solcher konkurrierenden Strömungen – idéologie, Traditionalismus und Liberalismus –, der Autor differenziert jedoch die beiden letzteren weiter aus: In sechs Teilen behandelt er nacheinander die idéologues, den »soziologischen Traditionalismus« von Louis de Bonald, den »theologischen Traditionalismus« von Félicité de Lamennais und seinen Schülern, den »etatistischen Liberalismus« der sogenannten doctrinaires und globistes, den »pluralistischen Liberalismus« Benjamin Constants und schließlich den »orientalistischen Traditionalismus« des Ferdinand von Eckstein.

Allein schon diese Auffächerung ist eine nicht zu unterschätzende Leistung, zumal McCalla das damit eröffnete breite Spektrum äußerst kompetent durchmisst und auch die Verflechtungen zwischen den Strömungen immer wieder geschickt thematisiert. Zwar werden einige klassische Werke wie die von Chateaubriand und de Maistre in Religion and the Post-Revolutionary Mind nur gestreift. Auch auf die so zentrale Schnittstelle von Religion und Gender – man denke u. a. an die einschlägigen Arbeiten von Caroline Ford, Carol Harrison, Claude Langlois und Jennifer Popiel – geht McCalla kaum ein (siehe immerhin S. 128–130 zu Bonalds Kampagne gegen das Scheidungsrecht). Dennoch besteht der Reiz seines Unterfangens darin, neben berühmten Figuren wie Bonald und Constant auch heute fast vergessene, in ihrer Zeit aber vielbeachtete und zum Teil durchaus originelle Denker wie Eckstein oder die globistes Théodore Jouffroy und Jean-Philibert Damiron ausführlich zu würdigen.

McCalla insistiert zurecht darauf, dass alle diese Männer besonders auf metahistorische Phasenmodelle von Ursprung und Entwicklung der Religionen zurückgriffen. Konkret entwickelten die idéologues eine rationalistische Kritik der Religion als eines »priesterlichen Übels« (mal sacerdotal), das menschheitsgeschichtlich tief sitze, aber durch Fortschritt überwindbar sei. Traditionalisten wie Bonald, Lamennais und Eckstein dagegen assoziierten die von ihnen verabscheute Revolution so sehr mit dem Hochmut der Vernunft, dass sie die gängige kirchliche Lehre verwarfen, wonach die menschliche Vernunft von sich aus robust genug sei, um offenbarte Wahrheit zu begreifen. Stattdessen schärften sie die Idee einer »primitive revelation« (v. a. 81), die Gott bereits Adam habe zuteilwerden lassen und deren Inhalte im (katholischen) Christentum endgültig entfaltet seien. Von der Schwäche der Vernunft lege die Geschichte mit ihren Korrumpierungen und Anfechtungen der Offenbarung Zeugnis ab, und daraus schloss vor allem Bonald für die Gegenwart und Zukunft, dass jegliches Abweichen vom Katholizismus zu intellektueller Verwirrung und gesellschaftlichem Kollaps führen müsse. Die Liberalen wiederum entwarfen Plädoyers für eine rationalisierbare und deshalb nicht unbedingt zu verwerfende Spiritualität (im Fall der doctrinaires um Victor Cousin und der globistes) oder für Religiosität als Gefühl (Constant). Davon zu unterscheiden seien verkrustete historische »forms of religion« (v. a. 281) wie Dogmatik und priesterliche Tyrannei. Der Staat solle sich, so vor allem Constant, in religiösen Belangen neutral verhalten, dann würden sich diese Formen auflösen und die Religiosität sich von selbst zur Privatsache entwickeln.

Vieles von alledem war weder neu noch spezifisch französisch, und man muss McCalla zugutehalten, dass er diesen Umstand nicht unterschlägt. Sorgfältig diskutiert er, wie viel Bonald dem abbé Bergier verdankte, wie Lamennais an Blaise Pascal anknüpfte, Constant an die Neologen und Schleiermacher, Eckstein schließlich an Friedrich Schlegels Indologie. Eine profunde transnationale Kontextualisierung will McCalla allerdings nicht leisten (deutschsprachige Sekundärliteratur zitiert er überhaupt nicht, Schlegel nur in englischer Übersetzung). Den Nachweis seiner Eingangsthese, dass die französischen Debatten »central to modern European efforts at self-definition« gewesen seien (4), kann er so freilich nicht konsequent antreten. Zudem kommt in der Einleitung die Rede von der Moderne etwas pompös und wenig trennscharf daher. Es stimmt, dass die Traditionalisten intellektuell innovativ waren, trotz – oder wegen – ihrer bisweilen rigiden Verherrlichung des Alten. Waren sie deshalb ebenso Protagonisten von »religious modernization« (7) wie die idéologues oder die Liberalen? Indem McCalla diese Frage bejaht, argumentiert er gegen die vermeintliche Dichotomie zwischen Modernität und Religion. Doch auf welche ernstzunehmende Säkularisierungstheorie der letzten Jahrzehnte träfe der Vorwurf zu, eine solche Dichotomie noch zu postulieren?

In seinem Fazit kann McCalla hingegen plausibel darlegen, dass noch heute viele Konflikte um Säkularismus und Religionsfreiheit in dem Rahmen ausgetragen werden, den die nachrevolutionäre Generation schuf oder zumindest verfestigte. Insgesamt ist sein Buch all jenen ans Herz zu legen, die sich thematisch mit dem Frankreich des 19. Jahrhunderts oder theoretisch mit der Problematik metahistorischer, europäisch-christlich geprägter Religionskonzepte beschäftigen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Kilian Harrer, Rezension von/compte rendu de: Arthur McCalla, Religion and the Post-Revolutionary Mind. Idéologues, Catholic Traditionalists, and Liberals in France, Montréal, QC (McGill-Queen’s University Press) 2023, 439 p. (McGill-Queen’s Studies in the History of Ideas, 88), ISBN 978-0-2280-1658-8, DOI 10.1515/9780228016595, EUR 113,95., in: Francia-Recensio 2024/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106527