Die Gründung der Académie royale de musique im Jahr 1672 war Teil eines umfassenden Programms zur Institutionalisierung der Wissenschaften und der schönen Künste im Ancien Régime. Die Erforschung der Komponistinnen und Komponisten, Künstlerinnen und Künstler und Werke, die das königliche Opernunternehmen bis 1791 hervorbrachte, füllt freilich bereits einige Regalmeter. Das Anliegen des hier betrachteten, englischsprachigen Sammelbands, der die Ergebnisse eines dreijährigen Forschungsprojekts am Centre de musique baroque de Versailles (CMBV) versammelt, ist daher nicht, einen weiteren Beitrag zur Autor- und Werkgeschichte der französischen Oper zu leisten. Stattdessen untersucht er die Geschichte der Académie royale de musique aus einer interdisziplinären und praxeologischen Perspektive. Dieser innovative Zugang stellt kulturwissenschaftliche Fragen über ästhetische und poetologische und zeichnet damit ein facettenreiches Bild der komplexen institutionellen, sozialen und kulturellen Dynamiken des höfischen Opernbetriebs.

Die konzise Einleitung formuliert die Leitfragen: Sie zielen auf die Untersuchung der Akademie als kulturelle Institution und ihren Platz und Status innerhalb des französischen Akademienetzwerks; ökonomische Modelle; die Akteurinnen und Akteure des künstlerischen, handwerklichen und administrativen Bereichs; die Organisationsstruktur; alltägliche Praktiken sowie Verantwortlichkeiten und Entscheidungsprozesse. Die 26 Beiträge sind in drei Sektionen gruppiert, »Identität«, »Produktion« und »Netzwerke«, deren editorische Betreuung sich die Herausgeberinnen und Herausgeber untereinander aufgeteilt haben. An die allgemeine Einleitung schließen sich daher drei thematische Einführungen von Barbara Nestola, Benoît Dratwicki und Thomas Leconte an. Eine Quellenübersicht, eine Bibliografie, Abstracts sowie ein Werk- und Namensindex runden den Band ab.

Die Beiträge der ersten Sektion, »Identity: An Unconventional Academy«, werfen Schlaglichter auf die Funktion und den Charakter der Académie royale de musique. Die Gründungsmotive und ihre Position innerhalb der königlichen Akademien bestimmt Thomas Vernet, ausgehend von Sébastien Leclercs Radierung L’Académie des sciences et des beaux-arts. Laurent Guillo erläutert das Wesen der Oper entlang von vier Achsen: Einzigartigkeit, Identität, Beständigkeit und königliche Autorität. Ihre Einzigartigkeit manifestiere sich etwa im königlichen Privileg, das der Académie royale de musique das exklusive Recht zur Aufführung von Opern verlieh, wodurch sie ein Monopol über die Gattung etablierte. Ein weiteres zentrales Merkmal der Akademie, die trotz ihrer royalistischen Ausrichtung als wirtschaftliches Unternehmen zu funktionieren hatte, stellt Lola Salem ins Zentrum ihrer Untersuchung: das System der Pensionszahlungen, das ab 1713 kontinuierlich formalisiert wurde. Die institutionellen Berührungspunkte zum Tanz, zur Académie royale de danse und zur operninternen Tanzschule, arbeiten die Beiträge von Françoise Dartois-Lapeyre und France Marchal-Ninosque heraus. Über die Quellengattungen der portraits en mode (Drucke) und Sängerdarstellungen in Gemälden, Stichen und Büsten nähern sich Pascale Cugy sowie Grégoire Ichou und Jean-Michel Vinciguerra schließlich der Akteursgruppe der Sängerinnen und Sänger und ihrer medialen Inszenierung an.

Die zweite Sektion, »Production: Authority and Responsibility in the Fashioning of Opera«, lotet die Herstellungsprozesse »hinter den Kulissen« aus. Das finanzielle Management gewährleisten, die künstlerische Qualität sichern, den Wünschen des Hofes gerecht werden – die Operndirektoren hatten so viele Ansprüche zu erfüllen, dass sie diesen kaum gerecht werden konnten. Welcher Handlungsspielraum ihnen dennoch zukam, zeigen die Beiträge von Pascal Denécheau für die Phase zwischen Lully und Rameau und Sylvie Bouissou für die anschließende Phase bis zur Revolution. Das Opernlibretto steht im Zentrum der sich anschließenden drei Beiträge. Die eröffnende Prämisse von Benjamin Pintiaux irritiert allerdings: Das Libretto sei ein untergeordneter (»minor«) Text, da er unter der Notenlinie platziert sei und sich Melodie und Rhythmus anpassen müsse (167). Seine Unselbstständigkeit, so der Autor weiter, klassifiziere ihn als »paraliterature«, die sich eines rein literaturwissenschaftlichen Zugangs entzöge. Dieses Argument ist nicht nur anachronistisch, schließlich existiert das Textbuch in der Regel bevor es vertont wird; seine Form und Struktur determinieren somit die Komposition. Die Position ignoriert auch die Methoden und Fragestellungen der Librettoforschung, die sich seit geraumer Zeit als Zweig einer interdisziplinären Literaturwissenschaft etabliert hat. Zwar ruft der Autor einige Merkmale der französischen Librettistik auf. Dem Aufsatz lässt sich mit seinen Werturteilen wie »the texts for songs, dances, and brunettes are not very interesting« (170–171) jedoch insgesamt wenig abgewinnen. Einen systematischen und historisch fundierten Einblick in den Prozess der Librettoherstellung gibt hingegen Thomas Soury. Er arbeitet heraus, wie neben dem Librettisten auch andere Instanzen, etwa die Petite Académie, Auftraggeberinnen und Auftraggeber, die Zensurbehörde und der Komponist, Einfluss auf die Sujetwahl und ästhetische Entscheidungen nahmen. Canevas und der parodie bezeichnen die Technik, einen Text auf ein präexistentes Musikstück zu verfassen. Dieses Phänomen und seine auktorialen Implikationen untersucht Loïc Chahine. In den ersten Jahrzehnten der Académie royale de musique stammte die Mehrzahl der Komponisten aus den eigenen Reihen, was sich jedoch ab der Ära von Jean-Philippe Rameau änderte. »Performer-composers« wie Cambert, La Barre oder Rebel gehörten dem petit chœur an und wirkten als Dirigenten, Flötisten oder Violinisten Tag ein Tag aus an der Aufführung des Repertoires mit, wie Julien Dubruque zeigt. Weiteren wichtigen Akteursgruppen und ihren Funktionen im Herstellungsprozess nehmen sich vier Aufsätze an: den Tanzmeistern (Rebecca Harris-Warrick/Laura Naudeix), den maîtres de musique (Graham Sadler) und den Sängerinnen und Sängern (Benoît Dratwicki und Barbara Nestola). Ferner beleuchtet Dratwicki anhand einer Vielzahl heterogener Quellen den Probenprozess, während Françoise Escande Antworten auf die Frage gibt, wie sich die Werkgestalt kanonisierter Opern bei Wiederaufnahmen änderte.

Die Beiträge der letzten Sektion, »Networks: An Interactive Academy«, thematisieren die Vernetzung der Oper mit anderen Institutionen sowie Rezeptionsphänomene. Im Sprechtheater hallten beispielsweise Opernentwicklungen wider: Parodistische und inszenatorische Referenzen finden sich nicht nur bei der Comédie-Italienne, die Barbara Nestola untersucht. Auch in metatheatralen Momenten Pariser Theaterstücke wurden Oper parodiert und kritisiert, wie Judith le Blanc zeigt. Die institutionelle Vernetzung der Académie royale de musique mit dem königlichen Hof steht im Zentrum der Aufsätze von Pauline Lemaigre-Gaffier, Lois Rosow und Petra Dotlačilová. Aufgrund der administrativen Struktur stand die Oper zu den Premiers gentilshommes und den Menu-Plaisirs in Beziehung, der Abteilung für höfische Vergnügungen (musique du roi), in welche die Oper 1780 überführt wurde. Beide Bereiche teilten materielle und personelle Ressourcen, etwa Notenmaterial und Kopisten, was Rosow anhand von Quellen aus der Finanzbuchhaltung illustriert. Ein weiterer Berührungspunkt zwischen Oper und Hof bestand im Bereich der Kostümherstellung, den Dotlačilová untersucht. Auch hier griffen beide Institutionen partiell auf geteilte Netzwerke, materielle und personelle Ressourcen zurück. Den Blick auf Opernpraktiken außerhalb des Zentrums weiten schließlich Natasha Roule, die in ihrem Aufsatz die Adaption von tragédies en musique für Provinzbühnen untersucht, und Bénédicte Hertz, die anhand einer neu entdeckten Librettosammlung das Repertoire und die sängerische Besetzung in Lyon für die Periode 1739–1744 und 1749/1750 rekonstruiert.

Der umfassende Band demonstriert die Vielgestaltigkeit und Komplexität einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Operngeschichtsschreibung. Er kann als beispielhaftes Modell dienen, den Blick auf Werk und Autorin oder Autor um weitere Perspektiven zu bereichern. Zwar finden sich kleinere editorische Fehler (Johnson 2022 auf S. 56 ist Johnson 2002 in der Bibliografie; Dotlačilova, S. 7, statt Dotlačilová). Sie schmälern jedoch nicht die Tatsache, dass die fundierten, quellengestützten Analysen ein Kompendium zur Académie royale de musique bieten, das als unverzichtbarer Referenzpunkt für weiterführende Forschungen dienen wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Nastasia Heckendorff, Rezension von/compte rendu de: Barbara Nestola, Benoît Dratwicki, Julien Dubruque, Thomas Leconte (ed.), The Fashioning of French Opera (1672–1791). Identity, Production, Networks, Turnhout (Brepols) 2022, 440 p., 36 b/w, 23 col. fig. (Epitome musical), ISBN 978-2-503-60478-7, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106529