In der Danksagung bezeichnet die Autorin ihr Buch als roadmovie, und das ist es auch. Imagination Mittelalter führt seine Leserinnen und Leser quer durch Europa: vom »Gotischen Haus« des Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau in Wörlitz am Beginn der 1770er-Jahre über Mittelalterbegeisterte ganz unterschiedlicher sozialer Stände wie den Zürcher Johann Martin Usteri und den Berliner Prinzen Carl von Preußen bis zum Abenteurer und Kunstspekulanten Victor Theubet in die Jahrzehnte nach 1860. »Imagination« klingt abstrakt, aber die Autorin macht gleich zu Beginn klar, dass sie darunter etwas sehr Handfestes versteht, nämlich die gelungenen Investitionen der Sammler, Museumsdirektoren und Kunsthändler – sie sagt höflich »Konstruktion« dazu.

»Mittelalter« ist dabei kein scharf abgegrenzter Epochenbegriff, sondern eine emotionale Chiffre für Kunstobjekte, die von ihren Besitzern mit einer bestimmten ästhetischen Intensität aufgeladen wurden. Glasgemälde aus dem späten 15., 16. und frühen 17. Jahrhundert fallen ebenso darunter wie Skulpturen und Spolien aus dem 11., 13. und 14. Jahrhundert, ein Thron aus dem 11. und eine vergoldete Altartafel aus dem 12. Jahrhundert. Mittelalter ist also ein Prinzip: Fragmente aus der Vergangenheit anderer Leute werden in vollständig neuen Kontexten zu hochwirksamen Aggregaten der Selbstdarstellung.

Das geschieht in Cárdenas’ präzise recherchierten Fallbeispielen als eklektische Bastelei, die ohne weiteres eine »palladianische Villa« im »gotischen Geschmack« mit üppiger Innendekoration hervorbringen kann wie im Fall des sächsischen Fürsten, der darin große Nacktbilder von Adam und Eva (altdeutsch, um 1563) mit Bildern hochgotischer Kirchenbauten und den Glasmalereien kombinierte, die er auf seinen Reisen in die Schweiz gekauft hatte. Porträts seiner eigenen Ahnen standen neben schweizerischen Heldendarstellungen, Kopien von Dürer und Holbein und Bildern der Kontrahenten Oliver Cromwell und Charles I. und Tilly und Wallenstein. Die Gebrauchsanweisung für diesen Bilderbogen lieferte 1786 Johann Caspar Lavater: Sie sollten »Denkmal alter Kunst und Gottvertrauter Zeiten« sein. »Bewunderung, Wemuth (sic), Muth und Hoffnung sehen Euch an«.

Denn das meint Imagination: Echt und alt ist, was starke Wirkungen beim Betrachter erzeugt. Das Historische sollte möglichst intensivierte Seherfahrungen samt sakraler überkonfessioneller Aura erzeugen. Cárdenas liefert aber gleichzeitig eine Vermarktungsgeschichte des Mittelalters, wenn sie den komplizierten Wegen der Schweizer Glasgemälde aus einer Zürcher Privatsammlung in eine neu aufgebaute Burganlage des Berliner Bankiers Wilhelm Christian Benecke in Niederschlesien in den 1830er- und 1840er-Jahren folgt. Beneckes frisch erworbener Adelstitel sollte mit Landsitz, Burgruine und einem Schloss mit möglichst viel und möglichst alter Kunst seinen neuen sozialen Status unübersehbar machen: Vergangenheit als Investition in die Zukunft. Gehalten hat das weniger als ein halbes Jahrhundert. Beneckes Glasgemälde wurden vom neuen Besitzer 1894 sofort wieder verkauft; die meisten gingen zurück in die Schweiz, als Dekoration für ein anderes neomittelalterliches Schloss, das neu gegründete Zürcher Landesmuseum.

Einen dritten neomittelalterlichen Themenpark kann man heute in Glienicke zwischen Potsdam und Berlin besichtigen, wenn auch als Rekonstruktion nach schweren Kriegszerstörungen. Prinz Carl von Preußen hatte sich dort in den 1820er-Jahren eine klassizistische Sommerresidenz errichten lassen, die er ab 1850 mit dem sogenannten Klosterhof ergänzte, einem Ensemble pseudosakraler und pseudofunktionaler mittelalterlicher Fantasiearchitektur. Um die Anlage mit möglichst viel echtem Alten zu dekorieren, rüstete er sie mit frühchristlichen Mosaiken aus Ravenna, gotischen Säulen und Skulpturen aus dem 11., 12. und 15. Jahrhundert aus Venedig, Padua und Pisa und der kompletten Grabskulptur für Pietro d’Abano aus dem 15. Jahrhundert auf. Das konnte man – die entsprechenden Finanzmittel vorausgesetzt – in der Mitte des 19. Jahrhunderts problemlos im venezianischen Kunsthandel erwerben. Der Titel von John Ruskins gleichzeitig erschienenen berühmten Bänden Stones of Venice bekommt so eine ganz neue Bedeutung.

Der Verweis auf Ruskin fehlt leider bei Cárdenas, ebenso wie Hinweise auf andere und spätere eklektische neo-mittelalterliche Museumsbauten mit Originalteilen, etwa The Cloisters des New Yorker Kunstsammlers George Grey Barnard. Dafür bietet sie eine Fülle von eindrucksvollen Beobachtungen und Vignetten zu den Verbindungen zwischen adeligen Bildungsreisen, dem internationalen Antiquitätenhandel und der zunehmenden politischen Aufladung des Mittelalters. Was im »Gotischen Haus« des Fürsten von Anhalt-Dessau in den 1770er-Jahren noch Dekoration für ein privates Lusthaus war (im wörtlichen Sinn, der Prinz unterhielt eine allgemein bekannte Affäre zur Tochter seines Gärtners, die dort offiziell untergebracht war), wurde beim strikt konservativen und antiparlamentarischen Prinz Carl von Preußen achtzig Jahre später politisches Programm. »Selbstcharismatisierung durch authentische mittelalterliche Artefakte« nennt Cárdenas seine Sammlungspolitik. Carl erwarb auch jenen Goslarer Kaiserthron, auf dem 1871 sein Bruder Wilhelm I. im Berliner Reichstag zum deutschen Kaiser gekrönt wurde.

Cárdenas dokumentiert schließlich die spektakulären Wertsteigerungen mittelalterlicher Kunstobjekte im Lauf des 19. Jahrhunderts. Ihr Buch ist deswegen eine Geschichte jener Zwischenhändler (man könnte auch Spekulanten sagen), die Institutionen wie dem 1862 im Louvre eröffneten Musée des Souverains des Militärdiktators und selbsternannten Kaisers Napoleon III. die benötigten echten alten Kunstschätze verschafften. Das demonstriert sie eindrucksvoll im Schlusskapitel über die 1836 versteigerten Objekte des Basler Münsterschatzes. Das dort angebotene Heinrichskreuz erwarb Carl von Preußen, die berühmte goldene Altartafel Heinrichs II. der gut vernetzte Offizier und Kunsthändler Victor Theubet, der sie zuletzt mit beträchtlichem Gewinn an den französischen Staat verkaufte. An ihm kann Cárdenas zeigen, wie Mittelalter vermarktet und Einzigartigkeit hergestellt wurde – durch möglichst spektakuläre Ausstellungen, Vergabe von Kopien, wissenschaftliche Publikationen, publikumswirksame Erzählungen von der angeblichen Rettung vor der Zerstörung und durch ebenso medienwirksam inszenierte Schenkungen anderer preisgünstigerer Objekte an öffentliche Museen.

Das Buch ähnelt deswegen tatsächlich einem roadmovie. Es ist eine Reise in die Entstehungsgeschichte jener Kunstmuseen, die sich heute gerne als rein dem Ästhetischen gewidmeten Tempel jenseits von Markt und Politik präsentieren. Es beschreibt die Produktion von Authentizität; denn die war eben nicht von vornherein da, und um sie ging es den Sammlern. Über Prinz Carls Klosterhof schwärmte 1882 ein Lokalhistoriker, er sei »das Wallfahrtsziel für Tausende, die sich an einer fast vollendeten Vereinigung der Kunst und der Natur erbauen« wollten – »keine Imitation, sondern ein wirklich dem Mittelalter entstammendes Gebäude«. Es wurde am Ende des 20. Jahrhunderts aufwändig rekonstruiert. Das mit großem Pomp eingeweihte Fürstenmuseum Napoleons III. dagegen hat dessen Sturz allerdings nicht überlebt. Schade eigentlich. Denn Museen, so zeigt dieses Buch, zeigen nicht einfach Kunst oder Vergangenheit, sondern komplexe Wechselbeziehungen zwischen Antiquitätenhandel, Fachwissenschaft und Politik; und die Arbeit der Agenten und go-betweens zwischen diesen Bereichen.

Ein sorgfältiger Dokumentenanhang schließt das Buch ab. Es ist rundherum gelungen, als einzige Kritik lässt sich formulieren: Ich hätte mir eine ähnliche Akkuratesse bei den Preisangaben gewünscht, um die realen Wertzuwächse beim Verkauf und Wiederverkauf der Kunstwerke deutlicher zu machen. Angaben in mehreren verschiedenen Währungen (Gulden, Reichstaler, französische Francs und Schweizer Franken) ohne Umrechnungen erschweren das; Vergleichsmaßstäbe in Jahresgehältern – z. B. von Universitätsprofessoren oder höheren Beamten – fehlen. Eine Analyse der Investitionen und der Gewinne im Handel mit historischen Artefakten, das zeigt das Buch jedenfalls in bewundernswerter Weise, ist unverzichtbare Grundlage für jede Geschichte von Musealisierung und Erinnerungskultur.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Valentin Groebner, Rezension von/compte rendu de: Livia Cárdenas, Imagination Mittelalter. Projektionen einer Epoche in Sammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts, Göttingen (Wallstein) 2023, 528 S., 159 Abb., ISBN 978-3-8353-5542-2, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2024/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106642