Gustav Stresemanns Verwandlung vom Herzensmonarchisten zum Vernunftrepublikaner gehört zu den Meistererzählungen der Geschichte der Weimarer Republik. In einer  populärwissenschaftlichen Biografie untersucht der Kaiserreich- und Weimarspezialist Christian Baechler die Etappen dieser Transformation. Laut Baechler dominieren zwei Strömungen die Stresemann-Geschichtsschreibung: eine positive, die in ihm einen Vorläufer der Westintegration eines Konrad Adenauer sieht, und eine kritische, die ihm Opportunismus, wenn nicht Zynismus unterstellt. Baechler spricht sich hingegen dezidiert für Stresemanns Aufrichtigkeit aus und stellt dessen Leben als einen kontinuierlichen Lernprozess dar. Diese chronologisch gegliederte Biografie verflicht mehrere Fäden und beleuchtet unterschiedliche Facetten Stresemanns: Geselligkeit und Kommunikation als Kern seines Politikstils; eine sich stetig entwickelnde Reflexion über die geeignete Staatsform; die Wandlung seiner außenpolitischen Positionen.

Das Buch widmet der politischen Kommunikation einen zentralen Platz. In seinen ersten Lebensjahren habe Stresemann Wissen und Erfahrung in diesem Bereich gesammelt. Im Mittelstand in einer liberal eingestellten Berliner Bierhändlerfamilie aufgewachsen, sei er zeitlebens volksnah geblieben und habe die Interessen des Volkes nie aus den Augen verloren. Als Sprachrohr der Burschenschaften Neogermania (Berlin 1897) und Suevia (Leipzig 1898–1899) habe er sich schon als Student in der rednerischen Kunst und Geselligkeitsformen geübt, die ihm in seiner späteren Karriere dienlich sein sollten. Als Syndikus des Verbands sächsischer Industrieller (1902–1919) habe er neue Methoden des Lobbyismus bei Parlament, Parteien und öffentlicher Meinung entwickelt, die er in den folgenden Jahren im politischen Bereich weiter anwenden würde. Sich der großen Bedeutung der Presse bewusst, habe er sich als Außenminister auf die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes gestützt. Edgar Stern-Rubarth, der Leiter von Wolffs Telegraphischem Bureau, der damaligen deutschen Hauptnachrichtenagentur, habe die deutsche Delegation bei jeder internationalen Konferenz begleitet. Stresemann sei stets darauf bedacht gewesen, die eigenen außenpolitischen Positionen dem breiten Publikum zu erklären. Dank dieser ununterbrochenen Öffentlichkeitsarbeit seien seine auswärtigen Erfolge wie der Locarno-Vertrag oder der Eintritt in den Völkerbund von der öffentlichen Meinung unterstützt worden.

Seine Wandlung zu einem Pfeiler der Republik sei alles andere als linear erfolgt. Schon als junger Monarchist, der die Institution des Kaisers als Verkörperung der Volksgemeinschaft verstanden habe, habe Stresemann Kritik an der wilhelminischen Gesellschaft geübt. 1895–1896 habe er in der Dresdner Zeitung Pamphlete gegen die Not der Textilarbeiter oder die Sinnlosigkeit der Mensur verfasst. Von Friedrich Naumann habe er einen sozial geprägten Liberalismus übernommen und habe neue Milieus für den Liberalismus gewinnen wollen. In der Nationalliberalen Partei, der er 1903 beitrat, habe er dem linken Flügel angehört. Die Niederlage 1918 habe einen tiefen Einschnitt in sein Leben bedeutet. Nach einer Zeit der Enttäuschung, Isolation und Depression habe er resigniert und die Republik in Kauf genommen. Im Krieg habe er die psychologische Mobilmachungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratien bewundert. Zudem sei er überzeugt gewesen, dass die Kriegserfahrung das Volk für die politische Partizipation reif gemacht hätte.

Die von Gustav Stresemann 1918 gegründete DVP habe auf der wilhelminischen Nationalliberalen Partei basiert und hätte den demokratischen Prozess verlangsamen sollen. Dennoch habe Stresemann von Anfang an eine Regierungsbeteiligung der Partei ins Auge gefasst. Eine Grenze zur kosmopolitischen DDP und zur republikfeindlichen DNVP habe er immer deutlich gezogen. Mit dem Mord an Walter Rathenau im Juni 1922 habe Stresemann eingesehen, dass sich die Deutschnationalen vom Rechtsextremismus distanzieren müssten. Alfred Hugenbergs Annäherung an den Nationalsozialismus ab 1928 habe er verworfen. Stresemanns Sorge habe der Integration der Arbeiterschaft und der Sozialdemokratie in die Regierung gegolten. Sein Plädoyer für die Beteiligung der SPD an der Koalition habe einer Radikalisierung der Linken und einer Revolution vorbeugen sollen. Stresemann selbst habe dann die Republik aus Pragmatismus unterstützt, als Staatsform, die die Deutschen am wenigsten spalte. Als Abgeordneter, Koalitionsmacher, Reichskanzler und Außenminister habe er beträchtlich zur Stabilisierung des Parlamentarismus beigetragen.

Für Christian Baechler liegt Stresemanns spektakulärste Umkehr in der Außenpolitik. Vor dem Krieg habe sich sein Verständnis der internationalen Beziehungen auf wirtschaftliche Aspekte konzentriert. Er habe im Protektionismus und in einem von der Aristokratie kontrollierten Auswärtigen Amt Hindernisse für die Entwicklung von Handel und Gewerbe in Deutschland gesehen. Nach einer für ihn sehr eindrucksvollen Reise nach Amerika gründete er 1914 den Deutsch-Amerikanischen Wirtschaftsverband mit. Im Ersten Weltkrieg habe er dann den Kurs abrupt gewechselt. Als Mitglied des Flottenvereins und des Alldeutschen Verbands habe er annexionistische Kriegsziele verfolgt und von zahlreichen deutschen Eroberungen geträumt: Nordfrankreich, Lüttich, Antwerpen, Flandern, die Provinz Hennegau und das Baltikum.

Mit der Niederlage sei »Stresemanns Welt brutal zusammengebrochen« (89). Er habe gehofft, dass die Interdependenz der europäischen Volkswirtschaften und ein Dialog mit Frankreich zu einer Revision des Versailler Vertrags führen würden. Die andauernde Not Deutschlands hätte »eine offene Wunde im Körper Europas« (162) bedeutet, so Stresemann am 22. November 1923 vor dem Reichstag. Im Laufe der Jahre habe er sich immer mehr von Machtpolitik und Imperialismus distanziert und Außenpolitik als Voraussetzung für die innere Befriedung Deutschlands verstanden. Wirtschaft sei stets zentral in seinem Europaverständnis geblieben. Ab 1926 und mit dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund sei der Begriff einer »internationalen Gemeinschaft« für ihn greifbare Realität geworden. In Genf sei er sehr aktiv gewesen und habe an seinem Stammtisch in der Völkerbunds-Kneipe Bavaria ein dichtes europäisches Netzwerk versammelt.

Mit dieser Studie hebt Christian Baechler besonders Stresemanns Rolle als Wegbereiter der Republik hervor. In seiner Biografie erscheint dieser nicht nur als Meister der Anpassung, sondern als aufrichtiger Erfinder, offen für politische Experimente und willens, »für das internationale Leben neue Formen« (206) zu schaffen. Dieses klar geschriebene und leserfreundliche Buch macht das Stresemann-Paradox der französischsprachigen Leserschaft zugänglich. Es gibt Anlass, hoch aktuelle Konzepte wie Realpolitik, Pragmatismus oder Liberalismus neu zu denken. Die Bewunderung, Faszination und Begeisterung des Biografen für seinen Akteur wirken ansteckend.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Agathe Bernier-Monod, Rezension von/compte rendu de: Christian Baechler, Gustav Stresemann. (1878–1929). Le dernier espoir face au nazisme, Paris (Passés composés/Humensis) 2023, 336 p., ISBN 979-1-0404-0135-3, EUR 23,00., in: Francia-Recensio 2024/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106699