Das Buch von Sandra Chapelle zählt zu den interessanten Neuerscheinungen der letzten Jahre zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871. Es basiert auf einer Dissertation an der Université de Bourgogne, betreut von Odile Roynette. Sandra Chapelle beleuchtet darin das in der Forschung oft übersehene Kriegserleben von Zivilpersonen. Sie untersucht, wie Zivilistinnen und Zivilisten durch autobiografisches Schreiben während Invasion, Kampfhandlungen, Belagerung und Besatzung ihre Erlebnisse verarbeiteten. Chapelle verbindet dabei Ansätze der französischen Kulturgeschichte von Alain Corbin mit ihrem Fokus auf Sensibilisierung und Sinnerfahrung mit der neuen Militärgeschichte, um aufzuzeigen, wie Kriege zeitgenössisch erlebt und interpretiert wurden.
Sandra Chapelle stützt sich auf ein umfangreiches Korpus von 107 autobiografischen Schriften, die sie in ihrer Recherche in Bibliotheken und Départementsarchiven erschlossen hat.1 Der Großteil dieser Quellen stammt von Personen aus dem Bürgertum und wurde unter dem unmittelbaren Eindruck von Krieg und Besatzung 1870–1873 verfasst. Drei Besonderheiten zeichnen dieses Korpus abgesehen von seiner Größe aus: Erstens ist etwa ein Drittel der ausgewerteten Tagebücher, Briefe und Erinnerungen bisher unveröffentlicht. Damit sind diese Quellen nicht nur der Forschung weitgehend unbekannt, sondern sie sind auch intimer geschrieben als Egodokumente, die zur Veröffentlichung bestimmt waren. Zweitens betreffen die Schriften nicht nur Paris, sondern auch die weniger gut erforschten rund 30 Departements im Osten und Norden Frankreichs, die von der deutschen Invasion und Besatzung betroffen waren. Drittens stammt ein Drittel der Quellen aus der Feder von Frauen, deren Rolle und Erfahrungen im Krieg 1870/1871 von der Forschung bisher vernachlässigt wurden.2
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Teil eins beleuchtet die Bedingungen des autobiografischen Schreibens im Krieg 1870/1871. Chapelle zeigt die geografische, soziale und geschlechtsspezifische Vielfalt der Sichtweisen der Zivilistinnen und Zivilisten auf die Ereignisse, die sie unmittelbar betrafen. Vielfach diente das Schreiben zur Wiederherstellung einer durch den Krieg geschädigten Intimität. So nutzten Frauen das Schreiben stärker zur Verarbeitung ihrer Sorgen und zur Flucht aus der Gegenwart, während Männer eher ihre Umgebung beschrieben.
Zu den Stärken der Arbeit gehören die Kapitel des zweiten Teils, die Gewalt und Traumata aus Sicht der Zivilbevölkerung behandeln. Während der Deutsch-Französische Krieg in der Forschung als ambivalent gilt – begrenzt in den Zielen, aber mit zunehmender Beteiligung der Zivilbevölkerung – zeigt Chapelle, wie Zivilpersonen sich selbst als Zielscheiben wahrnahmen. Für sie überschritt der Krieg eine Gewaltschwelle, die je nach sozialem Stand und Sprachkenntnis unterschiedlich wahrgenommen wurde. Es war der erste Krieg auf französischem Boden seit der Besatzungszeit nach den napoleonischen Kriegen, auf die in den Schriften häufig Bezug genommen wird. Besonders das Eindringen des Feindes in Privaträume durch die Einquartierung von Soldaten wurde als Gewaltakt empfunden. Fremde Sprache, Geruch, rüde Manieren, Plünderungen und Verwüstungen waren wiederkehrende Themen. Die Angst vor Brandstiftung, wie in Bazeilles (Ardennes) durch bayerische Truppen, war allgegenwärtig. Um der Passivität und dem angstvollen Warten zu entfliehen, engagierten sich viele Frauen in den mobilen Ambulanzen und kümmerten sich um die verwundeten Soldaten. Ihre Schriften zeigen, wie die Sensibilität für das Leiden eine geschlechtsspezifische Perspektive formte, die der körperlichen und sinnlichen Erfahrung des Krieges viel Raum gab.
Allerdings fehlt Chapelles Analyse eine klare Definition oder eine Typologie von Gewalt und Trauma. Sie subsumiert sehr unterschiedliche Phänomene unter Gewalt – von lauten Stimmen, schmutzigen Bettlaken und verwüsteten Zimmern, über Emotionen, wenn eine Niederlage bekannt wurde, bis zu Bombenangriffen und verstümmelten Körpern. Wenn aber alles Gewalt ist, wird dies als erkenntniserzeugendes Charakteristikum des Krieges nivelliert. Zugleich belegen Chapelles Quellen die in der Forschung erarbeitete Erkenntnis, dass die Bevölkerung keineswegs einhellig begeistert vom Krieg war. Deutlich wird neben Widerstand außerdem eine bisweilen vorsichtige Annäherung zwischen Besatzern und Besetzten, insbesondere dort, wo Verständigung möglich war. Im gelehrten und deutschsprachigen Milieu waren die Beziehungen oft friedlicher.
Interessant sind die Passagen, in denen Sandra Chapelle darlegt, wie sich der Hörsinn im Krieg veränderte. Zum alltäglichen Lärm gehörten nicht nur die Kampfgeräusche wie Artilleriefeuer, das Marschieren der deutschen Soldaten, ihre fremden Lieder und Stimmen, sondern auch die Rufe der Mitbürger, das Schreien eines aufgebrachten Mobs und plötzliche Stille. Auch Gerüchte und Falschmeldungen spielten eine Rolle – im Französischen bedeutet »bruit« zugleich Lärm und Gerücht. Diese bezogen sich im untersuchten Korpus ausschließlich auf Preußen. Großes Misstrauen herrschte auf beiden Seiten gegenüber Lichtsignalen. Die Angst vor Spionen führte dazu, dass jede Laterne oder jeder Kerzenschein, vor allem in oberen Stockwerken, als geheimes Zeichen für die Preußen und ihre Verbündeten interpretiert wurde. Besonders in Paris und im Departement Loire neigten die Texte zur Übertreibung.
Im dritten Teil des Buches behandelt Chapelle die Verarbeitung von Krieg und Niederlage und den Übergang des kriegerischen Geschehens in eine erinnerte Vergangenheit. Sie zeigt überzeugend, dass der Schock von Invasion, Besatzung und Niederlage nicht nur immens, sondern auch dauerhaft war. Zeitzeugen integrierten diese Erfahrungen in ihre Lebensgeschichten, unabhängig von ihrer politischen Einstellung. Die Schriften zeigen sich auch als Erzählungen, in denen die Zivilistinnen und Zivilisten versuchten, ihrem Erleben einen Sinn zu geben. Sie rationalisierten ihre Erfahrungen, um sie zu einem Objekt zu machen, das man denken, verstehen und akzeptieren kann. Dies umfasste die Suche nach militärischen und moralischen Gründen für die Niederlage, die Entstehung eines Totenkults – vom Umgang mit Leichen bis zur Trauerarbeit – und die Wiederherstellung einer traumatisierten nationalen Identität. Dabei wurden Frauen von der Dritten Republik aus der offiziellen Erinnerung um den Krieg ausgeschlossen, um das Model der kriegerischen Maskulinität zu verewigen.
Chapelle erreicht durch ihr Thema und den methodischen Zugriff über ein emotionales und sensitives Erfahren einen frischen Blick auf den Krieg 1870/1871. Es gelingt ihr jedoch nicht immer, den Fokus darauf zu bewahren, wie Zivilpersonen in ihren jeweiligen Situationen über den Krieg und ihre Empfindungen schrieben, auch wenn sie die Quellen keineswegs als reine Faktendarstellung des Kriegsgeschehens versteht. Eine Neubewertung des Krieges wäre ohnehin verfehlt, da zum einen das Korpus trotz seiner Größe in seiner sozialen Repräsentativität eingeschränkt ist und zum anderen deutschsprachige Quellen und Literatur nicht herangezogen wurden. Insgesamt stellt das Buch einen wertvollen Beitrag zur Forschung dar, mit einer gut geschriebenen und sensibel interpretierten Analyse autobiografischer Schriften, in denen Zivilistinnen und Zivilisten ihrem Kriegserleben Ausdruck und einen Sinn zu geben versuchten.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Mareike König, Rezension von/compte rendu de: Sandra Chapelle, Des civils au cœur de la guerre franco-allemande. Écriture de soi et expériences sensibles (1870–1914), Dijon (Éditions universitaires de Dijon) 2024, 267 p., ISBN 978-2-36441-518-8, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2024/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106703