Mit seinem Band über die drei Jahrzehnte vor und die beiden Jahrzehnte nach 1900 schließt der Düsseldorfer Historiker Thomas Gerhards eine Lücke in der von Guido Thiemeyer und Christian Henrich-Franke herausgegebenen Reihe zur europäischen Geschichte der Neuzeit, die sich laut Verlagsauskunft vor allem an Studierende wendet und »zur Vor- und Nachbereitung von Seminaren« und »zur effektiven Prüfungsvorbereitung« beitragen will – ein Anspruch, dem nicht nur durch den Abdruck von Karten und sogenannten Infoboxen mit (ausschließlich auf Deutsch verfassten) Quellentexten, Erläuterungen, Statistiken und Zeittafeln Rechnung getragen wird, sondern auch durch die kompakte Darstellung, das Definieren zentraler Begriffe und die übersichtliche Gliederung des behandelten Stoffes.
Wie die Autoren der drei bereits zuvor erschienenen Bände (die den Zeitraum von 1800 bis 1870 bzw. von 1920 bis 1970 und von 1970 bis 2015 behandeln) gibt Gerhards dem systematischen Zugriff Vorzug vor einem chronologischen. In einem 25-seitigen Überblick wird in die Epoche eingeführt; der gesamteuropäische Zugriff (anstelle einer Aneinanderreihung von Nationalgeschichten) wird kurz problematisiert und einige sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensivierende Basisprozesse (wie Emanzipierung und Individualisierung, Industrialisierung, Rationalisierung und Globalisierung) werden erläutert. Im Anschluss behandelt Gerhards die Zeit von 1870 bis 1920 in sechs, jeweils einer zentralen Kategorie gewidmeten Kapiteln, die ihrerseits systematisch gegliedert sind und jeweils mit einem kurzen Fazit enden.
Das erste dieser sechs, zwischen 22 und 33 Seiten starken Kapitel dreht sich um den Staat: um die Entstehung moderner Staatlichkeit im Laufe des »langen 19. Jahrhunderts« und die sich dabei ausbildenden Staats- und Organisationsformen (Monarchie und Republik bzw. Nationalstaat und Imperium); auch politische Aspekte (wie Partizipation und Parteiwesen) und die Herausbildung des modernen Sozialstaates werden hier beschrieben. Im zweiten Kapitel geht es um verschiedene Ausprägungen des Rechts: um die Weiterentwicklung des Völkerrechts und die Gründung internationaler Organisationen im Kontext des sich ändernden Machtgefüges in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, um die Ausbildung des modernen Konstitutionalismus, um die Ausweitung des Wahlrechts (wobei neben den juristischen Aspekten auch die soziale Praxis angesprochen wird) sowie um die Kodifikationen des Zivilrechts. Dem folgt ein Kapitel, in dem zunächst zentrale Phänomene der sich herausbildenden modernen Gesellschaft (wie die demografische Entwicklung, die Urbanisierung, die Migration und die Öffentlichkeit) thematisiert werden, gefolgt von einem Unterkapitel, in dem der Wandel von der Stände- zur Klassengesellschaft und deren einzelne Schichten vorgestellt werden, sowie einem weiteren Unterkapitel, das auf die Geschlechterverhältnisse und die Frauenemanzipation eingeht.
Für die beiden folgenden Kapitel zeichnen drei andere Autoren verantwortlich: Die in Düsseldorf lehrenden Historiker Yaman Kouli und Guido Thiemeyer widmen sich der europäischen Wirtschaftsgeschichte, mit einem Schwerpunkt auf der Industrialisierung und der Landwirtschaft sowie der Herausbildung eines eng mit der Weltwirtschaft verflochtenen europäischen Wirtschaftsraums und dessen Veränderung seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Der in Siegen lehrende Historiker Christian Henrich-Franke behandelt mit der technologischen Entwicklung, der Professionalisierung von Forschung und Ausbildung sowie der im Bereich von Kommunikation und Verkehr globalen Vernetzung Europas und der Welt zentrale Aspekte der Technikgeschichte. Dabei zeigt er auf, wie Technik maßgeblich die europäische Wirtschaft und Gesellschaft veränderte, neue Möglichkeiten der Raumbeherrschung und Raumeroberung schuf und damit »neue, teilweise dramatische Machtasymmetrien und neue Dimensionen der Gewalt« erzeugte (161).
Damit leitet er über zum letzten Kapitel, in dem Gerhards wieder den Staffelstab übernimmt. Hier geht es um die vielfältigen Phänomene von Gewalt: um die exzessive Anwendung von Gewalt im Rahmen der kolonialen Expansion, namentlich den Massenmord in Belgisch-Kongo und den Genozid an den Herero und den Nama in Deutsch-Südwestafrika, um die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus (der mit dem um die Jahrhundertwende vielerorts abgeschlossenen Prozess der rechtlichen Emanzipation der Jüdinnen und Juden kontrastiert wird) sowie um die Zwangsaussiedlungen und ethnischen Säuberungen, die in jener Zeit vor allem in Südosteuropa praktiziert wurden. Ein Unterkapitel zum Ersten Weltkrieg schließt das Kapitel ab, das noch einmal auf die im Laufe des Buches immer wieder konstatierte Janusköpfigkeit der Moderne verweist, wie sie sich in einem Nebeneinander »pazifizierender Zivilisation und entgrenzter Gewalt« (193) manifestiert habe.
Mit der Konzentration auf die Schlüsselkategorien Staat, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Technik und Gewalt folgt Gerhards' Darstellung der Konzeption der bereits erschienenen Bände der Reihe. Dass eine Kategorie wie Kultur und damit auch zentrale Phänomene wie die in ganz Europa ausgetragenen religiösen und konfessionellen Konflikte keine Aufnahme in das Buch gefunden haben, ist also nicht unbedingt dem Autor anzulasten. Das gilt vielleicht auch für die Setzung der beiden Zäsuren: Während das Jahr 1870 zumindest mit Blick auf Deutschland, Frankreich oder Italien nachvollziehbar ist, stellt sich die Frage, ob man den Band nicht 1920, sondern 1914, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, hätte enden lassen sollen – zumal zentrale Ereignisse wie der Genozid an den Armeniern, die russische Oktoberrevolution oder die deutsche Revolution von 1918 ausführlicher erst im Folgeband thematisiert werden. Während dieser einen Index enthält, der neben thematischen Schlagworten auch auf Ereignisse oder historische Persönlichkeiten verweist, beschränkt sich Gerhards' Index leider auf allgemeine Begriffe (wie »Eisenbahn«, »Industrialisierung« oder »Nationalstaat«).
Auch die fünfseitige Bibliografie im Anhang, die thematisch gegliedert ist und vor allem Standardwerke aufführt, hätte durch eine kurze Kommentierung sicherlich gewonnen. Umso mehr, als das Buch keinen Anmerkungsapparat enthält. In einer Zeit, in der Studierende – der Hauptadressat dieser Reihe – in ihren schriftlichen Arbeiten immer häufiger auf fundierte Nachweise verzichten oder sich mit im Internet abrufbaren Titeln begnügen, wäre es durchaus überlegenswert, Fuß- oder Endnoten mit Belegen und weiterführenden Empfehlungen sowie Verweisen zu den gelegentlich im Haupttext erwähnten Forschungsdebatten zu setzen. Schließlich kann ein Buch, das die europäische Geschichte von fünf Jahrzehnten auf nicht einmal 200 Seiten behandelt, gar nicht anders, als sich auf zentrale Strukturen und die in Europa en détail alles andere als synchron verlaufenden Prozesse zu beschränken und damit einen ersten Einstieg in die hochkomplexe Epoche zu bieten.
Und das ist Thomas Gerhards und seinen Koautoren durchaus gelungen. Auch wenn viele Aspekte nicht nur der Kulturgeschichte im engeren Sinne, sondern auch der Alltags- und Erfahrungsgeschichte oder der Ideologiegeschichte (Rassismus) nur angerissen werden, auch wenn das Schwergewicht ganz eindeutig auf Mittel- und Westeuropa liegt: Das kompakte Buch eignet sich, um Studienanfängerinnen und Studienanfänger, die mit der europäischen Geschichte von 1870 bis 1920 nicht vertraut sind oder sich bislang nur mit vereinzelten Ereignissen beschäftigt haben, aus einer Vogelperspektive mit ausgewählten zentralen Begriffen, Prozessen und Strukturen bekannt zu machen und deren Interesse für die Lektüre weiterführender aktueller Standardwerke zu wecken. Als Vorgeschichte, aber auch als Kontrastfolie unserer Gegenwart hat sich das »lange 19. Jahrhundert« in den letzten zwei Jahrzehnten ja weltweit einen prominenten Platz nicht nur in der Forschung, sondern auch in der historisch interessierten Öffentlichkeit (zurück)erobern können.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Armin Owzar, Rezension von/compte rendu de: Thomas Gerhards, Staat, Nation und Moderne. Europa 1870–1920, Stuttgart (Kohlhammer) 2022, 205 S., 14 Abb. (Europäische Geschichte der Neuzeit), ISBN 978-3-17-037741-7, EUR 29,00., in: Francia-Recensio 2024/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106708