Hört man die Verbindung der Worte »Frankreich« und »Terrorismus«, so hat man schnell die schrecklichen Bilder von den Anschlägen vor Augen, die das Land in den letzten zehn Jahren erschüttert haben: Die Anschlagserie vom 13. November 2015 in Paris, der Angriff auf Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt im Januar desselben Jahres, der Anschlag auf der Promenade des Anglais in Nizza 2016, die Ermordungen der Lehrer Samuel Paty 2020 und Dominique Bernard 2023 – all das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen (während der Entstehung dieses Textes fand ein Brandanschlag auf die Synagoge von Rouen statt). Terrorismus und das Sprechen darüber sind aber nicht nur ein Gegenwartsphänomen in Frankreich, wie der britische Historiker Chris Millington in seiner Monografie über Terrorismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt.
Für Millington ist Terrorismus zwingend mit den Diskursen verknüpft, die sich zwischen den eigentlichen Taten entspinnen. Während er in der Einleitung eine Arbeitsdefinition vorlegt, die Terrorismus als Form politisch motivierter Gewalt bezeichnet, die mit dem Versuch der Einschüchterung breiterer Öffentlichkeiten einhergeht, betont er zugleich die konstruktivistische Dimension des Phänomens: Gerade wegen der inhärenten Öffentlichkeitsorientierung terroristischer Gewalt spiele die Rezeption und Ausdeutung durch die Zeitgenossen eine zentrale Rolle.1 Als Ziel seiner Untersuchung strebt Millington dementsprechend »a history – rather than the history – of French perception of terrorism« an (12).
Die fünf inhaltlichen Kapitel des Buchs untersuchen in chronologischer Reihenfolge unterschiedliche Phasen der Auseinandersetzung mit terroristischer Gewalt in Frankreich zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. In Kapitel 1 (25–53) steht der anarchistische Terrorismus der Belle Époque und die enge Verbindung mit der zeitgenössischen Russlandrezeption im Zentrum. Das große Interesse der Öffentlichkeit an allem Russischen seit der Wiederannäherung der beiden Länder in den frühen 1890er-Jahren führte in Kombination mit Vorfällen wie einer versehentlich gezündeten Nagelbombe russischer Anarchisten im Bois de Boulogne am 3. Mai 1906 zur Wahrnehmung von Terrorismus als einem »russischem« Phänomen. Dabei wurde Terrorismus zunächst synonym mit Anarchismus und Nihilismus – weiteren »russischen« Konzepten – verwendet. Erst um die Jahrhundertwende differenzierten sich die Begriffe aus: Während Anarchismus stärker als kriminell gedeutet wurde, bekam Terrorismus durch verschiedene Anschläge gegen Amtsträger des Zarenreichs eine politische, tendenziell sogar pro-demokratische Konnotation.
Das zweite Kapitel (54–79) untersucht anhand des gescheiterten Attentatsversuchs des Anarchisten Émile Cottin auf Premierminister Georges Clemenceau am 19. Februar 1919 das veränderte Verständnis von Terrorismus nach dem Ersten Weltkrieg. Dabei wird deutlich, wie die Russische Revolution die Wahrnehmung von Terrorismus verändert hatte. Die tendenziell positive Wahrnehmung der Vorkriegszeit war einer Bolschewiki-Angst und der Sorge vor der Ausbreitung der Revolution über Russland hinaus gewichen. Die Wahrnehmung des Täters war ebenfalls von den Imaginationen anarchistischer Terroristen der Vorkriegszeit beeinflusst: Junge, isolierte, weltfremde Männer, die die Implikationen der anarchistischen Theorien nicht durchdrangen – und aufgrund dieser fehlenden mentalen Fähigkeiten nur bedingt schuldfähig seien.
Die folgenden Kapitel 3 bis 5 beschäftigen sich mit den 1930er‑Jahren und zeigen, wie zeitgenössische Krisenwahrnehmungen zu einer zunehmenden Politisierung entlang politischer Lagergrenzen führten. Als Beispiele dienen Millington die Ermordung von Staatspräsident Paul Doumer am 6. Mai 1932 durch den russischen Staatenlosen Paul Gorguloff (Kapitel 3, 80–107), das Attentat auf König Alexander I. von Jugoslawien und Frankreichs Außenminister Louis Barthou am 9. Oktober 1934 in Marseille durch den kroatischen IMRO-Terroristen Petrus Kelemen (Kapitel 4, 108‑140) sowie eine Reihe von Vorfällen zwischen dem 13. Oktober 1936 und dem 11. September 1937, darunter eine Serie von Bombenanschläge der rechtsextremen Cagoule, eine versuchte U-Bootentführung durch frankistische Agenten in Brest und die Entführung des Generals der russischen weißen Armee Yevgeny Miller im Pariser Exil (Kapitel 5, 141–174).
Millington zeigt, wie sich die Wahrnehmung von Terrorismus als nicht-französisches beziehungsweise russisches Phänomen im Verlauf der 1930er-Jahre zuspitzte: Die ausländische Herkunft mancher Täter beförderte einen Diskurs um die äußere Bedrohung Frankreichs und befeuerte ausländerfeindliche Stimmungen und eine Verschärfung der Einwanderungspolitik. Die Frage nach der mentalen Disposition der Täter spielte kaum noch eine Rolle, vielmehr wurden sie als Ausdruck einer Bedrohung Frankreichs aus dem Ausland gesehen, derer sich die Republik nur mit Mühe erwehren konnte. Das Buch endet in Vichy, wo Terrorismus zum ersten Mal als separater Straftatbestand eingeführt wurde. Der abschließende Epilog (175–193) legt dar, wie der Terrorismusvorwurf während des Zweiten Weltkriegs vom Vichy-Regime und der Résistance zur wechselseitigen Verurteilung der Gegenseite benutzt wurde.
Millingtons Arbeit besticht durch eine hohe Quellendichte. Das Grundgerüst der Arbeit bildet eine breite Auswahl zeitgenössischer Pressetitel, die um Archivquellen, weitere Publikationen und andere Medien wie Filme ergänzt wurde. Positiv hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch das angehängte Glossar der französischen Presse – auch wenn dieses aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht alle zitierten Titel enthält. Auf seiner breiten Quellenbasis kann Millington die zeitgenössischen Debatten kleinteilig nachzeichnen und zeigen, wie zeitgenössische Topoi und Imaginationen Eingang in Terrorismusdeutungen fanden und längerfristige Narrative beeinflussten. Der starke Fokus auf die Rekonstruktion von Tathergängen, Ermittlungen und Prozessen macht die Lektüre spannend, doch eine stärkere Systematisierung der betrachteten Fälle hätte den analytischen Mehrwert der Studie erhöht. So bleiben etwa die 1920er-Jahre und ihre Rolle für die Weiterentwicklung der Terrorismusdeutungen eine Leerstelle. Auch eine Differenzierung der Wahrnehmung unterschiedlicher Formen terroristischer Gewalt fehlt weitgehend. Es wäre spannend gewesen, mehr darüber zu erfahren, ob es zwischen Mordanschlägen auf Politiker, U-Bootentführungen und Bombenanschläge auf Züge Unterschiede in der Reaktion zu beobachten gibt. Trotz dieser Kritikpunkte liegt ein insgesamt überzeugendes Buch vor, das von den Vorarbeiten des Verfassers zu politischer Gewalt und Extremismus im Frankreich der Zwischenkriegszeit profitiert2 und unser Verständnis von Terrorismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereichert.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sebastian Petznick, Rezension von/compte rendu de: Chris Millington, The Invention of Terrorism in France. 1904–1939, Stanford (Stanford University Press) 2023, 304 p., ISBN 978-1503636521, USD 35,00., in: Francia-Recensio 2024/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106714