Als Schlagwort ist der »Positivismus« seit langem negativ konnotiert. Damit ist offenbar ein Denken gemeint, das alle ablehnen, auch wenn jeder etwas anderes darunter versteht. Trotzdem hat der Begriff eine eigene Geschichte und war im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit einer realexistierenden Bewegung verbunden. Neuerdings ist sie wieder Thema der historischen Forschung. Die in Montpellier, also der Geburtsstadt von Auguste Comte (1798–1857), lehrende Philosophin Annie Petit gehört seit langem zu den besten Kennerinnen dieses »historischen« Positivismus, wie er von Comte erfunden und propagiert wurde, bevor er sich in allerlei Schattierungen rund um den Globus verbreitete. Nachdem sie vor einigen Jahren eine umfangreiche Studie über das System der Comte’schen Philosophie vorgelegt hatte1, erscheint jetzt eine zweibändige Bilanz ihrer Forschungen, die man als ein grundlegendes Handbuch betrachten kann.
Während es im ersten Band eher um Comtes Philosophie und die von ihm so genannten »Dogmen« geht, denen jeweils die Auffassungen der Dissidenten um Émile Littré und der Orthodoxen um Pierre Lafitte gegenüber gestellt werden, behandelt der zweite Band einerseits die von Comte gewollte »Soziokratie«, also seine Utopie einer »altruistischen« Republik, die zum Reformprogramm seiner Erben und Nachfolger wurde, sowie andererseits Comtes »Außenpolitik«, also seine Bemühungen um eine internationale Anhängerschaft, die vor allem in England und Lateinamerika eine Zeit lang erfolgreich waren.
Mit großer Akribie, die sich in einem umfangreichen Fußnotenapparat niederschlägt, schildert Annie Petit die Verwandlung einer allumfassenden Sozialphilosophie in Lehrsätze, Praktiken und Rituale einer Quasi-Religion, freilich ohne persönlichen Gott. Was dabei auf den ersten Blick noch anderen zeitgenössischen Projekten, etwa von Saint-Simon und seinen Anhängern, ähnelt, nahm mit der Zeit ganz neue Formen an, da Comte und seine Schüler Littré und Lafitte hohe wissenschaftliche Ansprüche hatten und sich nicht mit der Rolle einer Sekte begnügen wollten. Auch wenn Comte selbst aufgrund seiner asketischen Lebensweise nie direkten Zugang zur politischen Klasse bekam, gelang es seinen Anhängern, die oft auch Freimaurer waren, zum Beispiel in den Anfängen der Dritten Republik die neue Schulpolitik und die Trennung von Staat und Kirche zu beeinflussen. Littré, der sich wegen der religiösen und politischen Wende von Comte getrennt hatte, jedoch weiter die »eigentliche« positivistische Philosophie vertrat, ging nicht zufällig als Verfasser des damals bedeutendsten Lexikons der französischen Sprache in die Bildungsgeschichte ein und wurde gegen den Widerstand der katholischen Kirche in die Académie française gewählt.
Wie man weiß, ging Comte selbst in allem, was er tat, extrem »systematisch« vor und wollte alles – Philosophie, Wissenschaft, Politik, Familie usw. – nach vermeintlich rationalen Prinzipien »ordnen« und »organisieren«. John Stuart Mill, der eine Zeit lang sein Anhänger war, ging deshalb früh eigene Wege und fragte: »Why this universal systematizing, systematizing, systematizing?«. Trotzdem übernahmen Comtes Schüler diesen Denkstil, und hier nun auch die Autorin: In jedem Kapitel werden nacheinander die Auffassungen erst von Comte, dann der Dissidenten und schließlich der Orthodoxen systematisch dokumentiert. Variationen und Aufzählungen sind daher unvermeidbar und verleihen den Bänden eher den Charakter eines Nachschlagewerkes denn einer flüssig geschriebenen Gesamtdarstellung.
Während wir es im Wesentlichen mit einem ideengeschichtlichen Panorama zu tun haben, das anhand von gedruckten Quellen und einzelnen Briefwechseln noch die entlegensten Winkel der Comte- und Positivismus-Rezeption ausleuchtet, hätte man am Ende gerne etwas mehr über das praktische Verhalten der Positivisten in der Zivilgesellschaft erfahren. Wurden sie nicht auch, vor allem wenn sie als (gemäßigte) Sozialisten in der Arbeiterbewegung, in Gewerkschaften und bourses du travail aktiv waren, von der Polizei überwacht, sodass es entsprechende Akten geben müsste? Auch kulturelle Praktiken wie positivistische Bibliotheken, positivistische Feste, Hochzeiten, Beerdigungen usw. wurden zweifellos in Archiven dokumentiert, und die Attraktivität des Positivismus als Weltanschauung hing wohl nicht nur von seinen Prinzipien, sondern ebenso von seiner Flexibilität und Alltagstauglichkeit ab – oder eben nicht. Hier bleibt für Sozial- und Kulturhistorikerinnen und -historiker noch einiges zu erforschen.
Alles in allem hat Annie Petit zwei Bände vorgelegt, die zusammen mit ihrem zitierten Buch von 2016 und der großen Comte-Biografie von Mary Pickering2 sowie den neueren Publikationen aus dem Umkreis der Maison-Auguste-Comte eine hervorragende Basis für weitere Forschungen bilden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Peter Schöttler, Rezension von/compte rendu de: Annie Petit, Un siècle de positivisme(s), 2 vol., Paris (Les éditions Hermann) 2023, 294; 478 p., ISBN 979-10-370-2983-6; 979-10-370-2985-0, EUR 87,00., in: Francia-Recensio 2024/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.3.106717