»Occitans en lutte contre la colonisation de leur pays par le grand capital francien […]. Et s’il le faut, le Languedoc redeviendra cathare«1, wetterte André Castéra anlässlich der südfranzösischen Winzeraufstände der 1970er-Jahre. Ein knappes halbes Jahrhundert später ist es vom 5. April 2024 bis voraussichtlich 5. Januar 2025 endlich soweit und das Languedoc kehrt mit der im Musée Saint-Raymond sowie in der Jakobinerkirche in Toulouse gezeigten rund 300 Exponate umfassenden Ausstellung »Cathares«. Toulouse dans la croisade2 wie heraufbeschworen zu den »Katharern« zurück; oder doch nicht?
Der in Anführungszeichen gesetzte Obertitel der Ausstellung sowie des erfreulicherweise bereits vor Ausstellungsbeginn vorliegenden, wissenschaftlichen Begleitbands offenbart das Anliegen, die in Mittelalter und Moderne auftauchende Kategorie der »Cathares« zu dekonstruieren. Dafür zeichnet der Band eine durch den Albigenserkreuzzug (Entstehung, Ablauf, Nachwirken) strukturierte Regionalgeschichte der Grafschaft Toulouse nach, die ihren Ausgang im beginnenden 12. Jahrhundert nimmt und mit dem Heimfall an das französische Königtum im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts bzw. den modernen Mittelalterbildern (Mediävalismen) abschließt.
Der Facettenreichtum eines derart umfangreichen Unterfangens spiegelt sich in den 107 gut katalogisierten und mit vortrefflichen Abbildungen versehenen Ausstellungsexponaten wider, die sich auf fünf unnummerierte, chronologisch voranschreitende Abteilungen erstrecken: Des églises et des dissidents (16–65), une croisade contre des »Albigeois« (66–169), Toulouse durant la croisade (170–291), Le temps du roi (292–419), Mythes et postérités »Cathares« (420–447).
Während der Band aufzeigen will, dass die stets mit der Toulouser Vergangenheit assoziierte Häresie der »Katharer« keine historische Wirklichkeit, sondern eine Gelehrtenkonstruktion v. a. des 19. und 20. Jahrhunderts darstellt, wobei die dafür notwendigen Erklärungen teilweise zu kurz treten, entwirft dieser seine eigene Meistererzählung: Denn an die Stelle der »Cathares« tritt die Entstehung einer südfranzösischen Regionalidentität, die ihren Niederschlag in der lokalen Dissidenzbewegung der »fundamentalistisch-evangelikalen« Bons hommes findet, die sich gegen die repressive Kirchenpolitik richtet und eine Reaktion auf den anwachsenden Antiklerikalismus und den Mentalitätswandel der gregorianischen Reform darstellt. Die Stärke der 107 teils eigens bebilderten Beiträge liegt aber darin, nicht in der Häresiedebatte zu versanden, sondern den kulturellen, politischen und religiösen Wandel der Grafschaft sowie u.a. die dortige Alltags- und Militärgeschichte aus interdisziplinärer Perspektive zu beleuchten. Immerhin erfahren die Bevölkerung von Toulouse (Jean Catalo) sowie der dortige Handel (Judicaël Petrowiste) und Geldumlauf (Francis Dieulafait) eine gleichberechtigte Behandlung wie einschlägige Kreuzzugsthemen. Erfreulicherweise befasst sich die fünfte Abteilung mit der Wahrnehmung der lebendigen südfranzösischen Vergangenheit in der Geschichtskultur, auch wenn hier wohl aufgrund des epistemologischen Standpunkts bewusst vom zutreffenderen Begriff der Konstruktion bzw. des Mediävalimus Abstand genommen wurde und von Mythen und Nachkommenschaft die Rede ist. Insbesondere die Neuerfindung der Identifikationsfigur des heldenhaft-katharischen Dissidenten in der Mittelalterpopkultur (bspw. Mathieu Scapin) hätte eine eingehendere, weniger oberflächliche Betrachtung verdient.
Die thematisch-chronologische Strukturierung des Bandes erweist sich als gut durchdacht, zumal die ausgewählten Objekte die ihnen vorausgehenden Beiträge harmonisch ergänzen und den Diskurs zurück auf die lokale Ebene verlagern. Dabei lassen sich klare Tendenzen zur Wiedergabe von archäologischen Fundstücken aus der Region erkennen. Dass dem gesamten Katalog lediglich implizit ein state of research der okzitanischen Häresien von Jean‑Louis Biget (18–20) vorangestellt wird, erweist sich als unvorteilhaft für den Lesefluss. Hier wäre ein kurzer einführender Abriss zu den historischen Ereignissen und Entwicklungen der Grafschaft, ihre Kartierung oder ein Zeitstrahl durchaus angebracht gewesen, vor allem um einen besseren Überblick über die kleinteilige Untergliederung zu schaffen.
Wie voraussagbar ist die wesentliche Erkenntnis, dass sich viele Quellen bspw. Toulouse, BM, ms. 609 (Jean-Paul Rehr) gar nicht auf »Katharer« beziehen, wie vielerorts postuliert wird. Die äußerst knappe Auseinandersetzung mit der Echtheitsfrage der umstrittenen Charte de Niquinta zeigt deutlich, dass Biget (Editionsgeschichte: 52) und David Zbíral (inhaltliche Interpretation: 53) auf unterschiedlichen Deutungsebenen argumentieren und es somit nicht schaffen, den jeweils anderen zu falsifizieren. Dabei erkennt letzterer in seiner implizierten Polemik zwar den Verdienst der Dekonstruktivisten an, vorherrschende Überinterpretationen revidiert zu haben, nicht aber ohne sein eigenes Glaubensbekenntnis für den »christianisme cathare une généralisation valide« zu postulieren.
Summa summarum: Der Katalog ist in der ideologisch aufgeladenen Forschungskontroverse zwischen einem dekonstruktivistischen und einem traditionalistischen Forschungslager über die Existenz einer dualistischen katharischen Gegenkirche eindeutig auf erstgenannter Seite zu verorten. Die wiederaufgegriffene Frage nach der Existenz der Katharer ist jedoch grundsätzlich falsch gestellt. Denn erst die Systematisierung der Vorstellungen und des Wissens über »Häresien« durch die Kirchenautoren und das daraus resultierende autoritative Sprechen über Andere (Othering) machte »Ketzer« zu Ketzern; unabhängig davon, ob sie tatsächlich als Gruppe existierten oder nicht. Deswegen obliegt es künftigen Untersuchungen, die diskursive Funktion der Quellen sowie die politische Instrumentalisierung von Häresiezuschreibungen stärker in den Mittelpunkt zu rücken.
Ist man sich des zugrundeliegenden dekonstruktivistischen Ansatzes und der damit einhergehenden Implikationen erst einmal bewusst, erweist sich der Katalog trotz aller Kritik nicht nur als schön illustriertes Coffee Table Book im Großformat mit Diskussionspotential, sondern als Bereicherung für alle, die sich mit der südfranzösischen Häresie- und Regionalgeschichte auseinandersetzen. Dies ist der Bandbreite an gelungenen interdisziplinären Beiträgen und der Vielfalt gut ausgesuchter Exponate geschuldet, welche die Leserschaft in einen »dunklen« Abschnitt der Toulouser Vergangenheit entführen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Ulf Floßdorf, Rezension von/compte rendu de: Laure Barthet, Laurent Macé (dir.), »Cathares«. Toulouse dans la croisade, Paris (In Fine éditions d’art) 2024, 472 p., 390 ill., ISBN 978-2-38203-173-5, EUR 42,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108054