»Thalassokratie« begegnet als Quellenbegriff zuerst vor zweitausend Jahren bei Strabon. Die deutsche Entsprechung »Seeherrschaft« suggeriert eine Beherrschung von Seeflächen, aber in diesem Sinne ist er wissenschaftlich wenig brauchbar. Jaspert und Rüdiger verstehen vielmehr unter »Thalassokratie« »eine Sonderform maritimer Gesellschaften, die über die natürliche Grenze ihrer eigenen Küsten hinweg Macht ausübten bzw. denen diese Fähigkeit zugesprochen wurde« (18). Von der Ambition, das Erbe Roms als Herrscherin des Mittelmeers anzutreten, waren die Umayyaden und Abbasiden geleitet. Auch die als »Piraterie« entwerteten Aktionen der Muslime im westlichen Mittelmeer bis zum 12. Jahrhundert indizierten thalassokratisches Denken (Ch. Picard). Die Mamluken konzentrierten sich hingegen danach auf defensive Maßnahmen, indem sie Küstenstädte als potentielle Angriffsziele christlicher Mächte zerstörten, während die Osmanen erst nach der Eroberung Konstantinopels 1453 zur Seemacht aufstiegen (A. Fuess). Bei den italienischen Seestädten setzte sich nur allmählich das Bewusstsein eines besonderen Verhältnisses zum Meer durch. Von Seeherrschaft war aber erst im spätmittelalterlichen Venedig die Rede, vermutlich in der Folge des Vierten Kreuzzugs (M. van der Höh). Was Aragón betrifft, hat Peter IV. (1336–1387) das westliche Mittelmeer bis zu den Balearen bzw. Sardinien als Teil seiner Herrschaft verstanden, ohne einen Unterschied zwischen Land und Wasser zu machen. Die gescheiterte Expedition Genuas gegen den muslimischen Stützpunkt Mahdiya von 1390 gab zwar dem französischen Chronisten Froissart sowie dem afrikanischen Universalhistoriker Ibn Haldun Gelegenheit, über die Vorherrschaft einer der beiden Seiten zu räsonieren, doch konnten beide wiederum Maritimes und Terrestrisches kaum voneinander trennen (U. Brachthäuser, Ch. A. Neumann). Die Johanniter auf Rhodos haben sich seit dem 14. Jahrhundert in der südlichen Ägäis sowie im nordöstlichen Mittelmeer zur Sicherung ihrer landgestützten Herrschaft um eine Kontrolle des Schiffsverkehrs bemüht, ohne dass man von einer Herrschaft zur See sprechen könnte. Gleiches gilt für den »landesherrlichen Einsatz von Schiffen« in der Ostsee durch den Deutschen Orden im 15. und 16. Jahrhundert (J. Sarnowsky). Die Hanse strebte, wie anhand der Geschichten von Lübeck und Stralsund zu sehen ist, keine Meeresherrschaft an, sondern nur den Schutz ihrer Handelsinteressen auf maritimen Routen (T. Geelhaar, U. Kypta). – Aus der Reihe der übrigen Beiträge fällt die Abhandlung von L. Herberich heraus; er analysiert an den Beispielen von Genua und Venedig die Strategien und Möglichkeiten dieser Städte im Umgang mit Seeräubern.

Im Ganzen liegt der Gewinn des Sammelbandes, der schon auf eine Sektion des Historikertages von 2010 zurückgeht, im Nachweis der begrenzten Bedeutung thalassokratischen Denkens und Agierens im Mittelalter. Es wäre deshalb vielleicht angemessen gewesen, dem monumentalen Titel ein Fragezeichen anzuhängen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Borgolte, Rezension von/compte rendu de: Nikolas Jaspert, Jan Rüdiger (Hg.), Thalassokratien im Mittelalter, Paderborn (Brill Schöningh) 2024, 349 S. (Mittelmeerstudien, 25), ISBN 978-3-506-79291-4, EUR 127,19., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108067