Mit diesem umfangreichen Band erschließen die »Fasti« nicht nur die (nach Amiens, Reims und Châlons-en-Champagne) vierte Diözese der Kirchenprovinz Reims, sondern zugleich ein Bistum, das auf Reichsgebiet lag. Trotz der Zerstörungen und Verluste in Kriegen und der Französischen Revolution verfügen wir noch heute über reiches Quellenmaterial, das die Autorin sorgfältig auszuwerten versteht. Auf die »Notice institutionnelle« (3–32) mit einem Überblick über Geschichte und Struktur der Diözese folgen Abschnitte zum Domviertel (33–58), den Bibliotheken der Kathedrale und der Domherren (59–91) sowie ein Verzeichnis der Quellen und die Bibliographie (93–143). Der zweite Teil umfasst die »Notices biographiques« (145–681), die durch Indices erschlossen werden (683–805).
Verkehrsgünstig am rechten Ufer der Schelde und der Kreuzung der Römerstraßen von Bavay nach Amiens und von Arras nach Vermand gelegen, gehörte Cambrai zur antiken civitas der Nervier, deren Hauptort Bavay es im 5. Jahrhundert ablöste. Auf kirchlicher Ebene konnte es sich gegen das ca. 35 km entfernte Arras durchsetzen: Als erster Bischof residierte der hl. Gaugericus (saint Géry, 584/90–nach 624) nicht mehr dort, sondern in Cambrai. Auch nach der Ausgliederung einer eigenen Diözese Arras durch Papst Urban II. 1093/94 blieb die Ausdehnung des Bistums Cambrai enorm: Es reichte von den heutigen départements du Nord und de l’Aisne im Süden bis zum belgischen Turnhout (Provinz Antwerpen) im Norden und umfasste im 14. Jahrhundert nicht weniger als 1029 Pfarreien. Im folgenden Jahrhundert zählte die Diözese 28 Säkularkanonikerstifte, zwei Gemeinschaften von Chorfrauen (Sainte-Waudru in Mons und Sainte-Aldegonde in Maubeuge) sowie zahlreiche monastische Häuser. Die Bischofsstadt beherbergte mit Saint-Géry das wichtigste Stift: Um 850 gegründet, verfügte es im ausgehenden Mittelalter über 48 Pfründen. Daneben gab es in Cambrai die Stifte Saint-Ladre und Sainte-Croix, ferner die Regularkanonikerstifte Saint-Aubert und Sainte-Marie de Cantimpré sowie die Benediktinerabtei Saint-Sépulcre. Die Diözesangrenzen blieben nach dem Ausscheiden von Arras bis 1559 stabil. Als in jenem Jahr die kirchliche Gliederung der Niederlande reorganisiert wurde, verlor Cambrai einen Teil seines Territoriums an die neu errichteten Bistümer Mechelen und Antwerpen, wurde zugleich aber zur Metropole einer Kirchenprovinz mit den Suffraganen Saint-Omer, Arras, Tournai und Namur erhoben.
Die weltliche Herrschaft des Bischofs wurde im frühen 11. Jahrhundert begründet, als König Heinrich II. ihm 1007 die Grafschaft Cambrai verlieh (MGH D H II Nr. 142), um ein Gegengewicht gegen den Grafen von Flandern zu schaffen. Auf diözesaner Ebene bildeten die Archidiakone, die Generalvikare und der seit 1180/91 belegte Offizial die Entourage des Bischofs; bei der Verwaltung der Grafschaft wurde er vom bailli und dem châtelain als den beiden wichtigsten Beamten unterstützt. Es bildete sich ein Lehnshof, der aus zwölf pairs bestand. Die Einkünfte des Bistums waren beachtlich und beliefen sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts auf 6000 Goldgulden. Die Zugehörigkeit der Diözese zur Kirchenprovinz Reims und die Schwäche der deutschen Königsgewalt begünstigten seit dem 13. Jahrhundert einen zunehmenden Einfluss des französischen Herrschers auf den Bischofssitz: Von 1306 bis 1378 waren fast alle Bischöfe Franzosen und der Krone ergeben. Ihre Bestellung erfolgte in Avignon auf Vorschlag des französischen Königs. Am Ende des Jahrhunderts geriet Cambrai in die burgundische Machtsphäre.
Das erste gesicherte urkundliche Zeugnis für die an der Domkirche tätige Klerikergemeinschaft ist ein Diplom Ludwigs des Frommen vom 15. April 816 (nicht 817), das die fratres erwähnt (MGH D LdF Nr. 92). Über eine eigene mensa verfügte das Kapitel erst seit dem 13. Jahrhundert, als sich das gemeinschaftliche Leben auflöste. An seiner Spitze stand ein Propst, der 1135 erstmals erwähnt wird. Im ausgehenden Mittelalter verfügte es über 50 Pfründen, von denen zwei Drittel vom Bischof und ein Drittel vom Kapitel selbst vergeben wurden.
Die Stadt Cambrai war während des Ersten Weltkriegs von deutschen Truppen besetzt. Bei ihrem Rückzug 1918 setzten sie sie in Brand, dem nicht nur das Rathaus und das Stadtarchiv, sondern auch mehr als ein Drittel der Häuser zum Opfer fiel. Die mittelalterliche Kathedrale, Sancta Maria Cameracensis, stand damals nicht mehr, denn sie war bereits in den Jahren 1796 bis 1809 abgerissen worden. An ihrer Stelle, der heutigen place Fénelon, befinden sich nun ein öffentlicher Park und ein Parkplatz. Schriftliche und archäologische Zeugnisse gestatten es jedoch, ihre Architektur und Innenausstattung zu rekonstruieren. Der Abschnitt, der diesem Thema gewidmet ist, besitzt deshalb besonderen Wert. Der dreischiffige Bau in der Form eines lateinischen Kreuzes wurde Mitte des 12. Jahrhunderts begonnen und bis 1251 weitgehend abgeschlossen. Sein Chor diente als Grablege der Bischöfe. Seit 1360 erhob sich über dem Portalvorbau ein 114 Meter hoher Turm, dessen Spitze von einem Engel aus Messing bekrönt wurde. Berühmt war die 1347/48 installierte astronomische Uhr, und bemerkenswert ist, dass das Kapitel im Jahr 1422 Jan van Eyck mit der Gestaltung der Osterkerze beauftragte. Da aus dem Mittelalter weder ein Zeremonial noch ein vollständiges Ordinarium überliefert ist, wissen wir nur wenig über die Liturgie. Festzuhalten ist, dass Bischof Heinrich von Berghes (1480–1502) den heiligen Kaiser Heinrich II., der 1007 die Grafenrechte verliehen hatte, mit der Einführung seines Festes am 14. Juli (statt des 13. Juli) ehrte.
Der Rolle des Bistums entsprach der Reichtum der Dombibliothek, deren erstes erhaltenes Inventar aus dem späten 10. Jahrhundert bereits ca. 60 Titel verzeichnet. Inventare des 14. und 15. Jahrhunderts sowie Kataloge des 19. und 20. Jahrhunderts gewähren Aufschluss über ihren Bestand am Ende des Mittelalters. Sie verwahrte nur Handschriften, keine Inkunabeln, hauptsächlich zur Philosophie und Theologie sowie zum kanonischen und zivilen Recht, gefolgt von Musik und Geschichte. Daneben verfügten auch zahlreiche Kanoniker über ihre eigenen Bibliotheken. Für die Zeit von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Jahr 1528 lassen sich 99 Kanoniker mit Bücherbesitz identifizieren. Sie werden aufgelistet mit Angabe der wichtigsten Werke, die sich in ihrem Besitz befanden (67–91).
Die Bibliographie sowie ein Überblick über die gedruckten und ungedruckten Quellen beschließen den ersten Teil des Bandes. Es gibt kaum ein Domkapitel im heutigen Frankreich, für das ein vergleichbar reicher Bestand überliefert ist. Er wird zum größten Teil in den Archives départementales du Nord in Lille sowie in der Bibliothèque municipale in Cambrai aufbewahrt.
Der zweite, prosopographische Teil bietet detaillierte biographische Abrisse (mit Angabe der wichtigsten Quellen und Literatur) von 21 Bischöfen, angefangen mit Johannes von Béthune (1200–1219) bis zu Heinrich von Berghes (1480–1502). Unter ihnen ragt der Kardinal Pierre d’Ailly (1397–1412), einer der Protagonisten des Konstanzer Konzils, hervor (212–223). Es folgen prosopographische Angaben zu den Angehörigen des Domkapitels sowie den wichtigsten geistlichen Funktionsträgern.
Der Band erschließt auf vorbildliche Art und Weise die Geschichte eines der bedeutendsten Bistümer an der Grenze Frankreichs und des Reichs. Er besitzt den Charakter eines Handbuchs und wird auch der deutschen Forschung wichtige Dienste leisten. Man darf sich auf die nächsten Bände der »Fasti« zu Verdun und Beauvais freuen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Rolf Große, Rezension von/compte rendu de: Monique Maillard-Luypaert, Fasti Ecclesiae Gallicanae. Répertoire prosopographique des évêques, dignitaires et chanoines de France de 1200 à 1500. T. 24: Diocèse de Cambrai, Turnhout (Brepols) 2024, XIII–805 p., 11 ill. en n/b, ISBN 978-2-503-60221-9, EUR 80,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108068