Die Malerschule des Bodenseeklosters Reichenau gehört zu den bedeutendsten Vertretern ihrer Art im Ostfrankenreich und ist ab der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts und bis ins 11. Jahrhundert hinein unübertroffen in Umfang und Qualität. Wenigstens 69 Prachthandschriften mit eindeutig Reichenauer Provenienz sind erhalten.1 Besonders die Produkte des 10. und des 11. Jahrhunderts, von denen einige zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehören, belegen das hohe Niveau.

Der Kunsthistoriker Jochen Hermann Vennebusch hat sich gezielt der »Reichenauer Evangelienbücher« angenommen und untersucht Anlagekonzepte, gottesdienstliche Verwendung und das in der Malerei fassbare visuelle Offenbarungsverständnis. Die Studie ist eine leicht überarbeitete Fassung seiner Doktorarbeit, die im DFG-Sonderforschungsbereich 950 entstanden ist. Das Buch beschäftigt sich mit den Reichenauer Evangeliaren, also den Büchern, die den vollständigen Text der vier kanonischen Evangelien enthalten. Die deutlich zahlreicheren Evangelistare Reichenauer Herkunft, die als Perikopenbücher nur notwendige Leseausschnitte für die Liturgie enthalten, spielen keine Rolle und werden nur am Rande gestreift. Lediglich das »Perikopenbuch Heinrichs II.« (München, BSB, Clm 4452) wird zum Vergleich von Evangelistenbildern herangezogen (315–317). Maßgeblich für die Beschränkung auf Evangeliare ist der dort enthaltene »Paracontent«, ein »umfangreicher Bestand an begleitendenden Texten und Ausstattungsapparat« (16). Zu diesem »Paracontent« zählen »Prologe, kurze Evangelistenbiographien sowie Briefe«, Indices, Miniaturen und Illuminationen (17), also alles, was nicht direkter Evangelientext ist. Der Autor fasst die Evangeliare entsprechend als »Corpora« auf, bei denen die einzelnen Bestandteile des »Paracontent« in vielfältiger Weise mit dem »core-content« der Evangelien interagieren (17–18). Evangelistaren fehle der entsprechende »Paracontent«, auch wenn sie über »einen pikturalen Paracontent in Form von Evangelistenbildern oder narrativen Zyklen« verfügten (18). Im Fokus der Untersuchung steht eben dieser »Paracontent«, der Bibeltext selbst spielt nur eine untergeordnete Rolle. Ausgehend vom Stand der kunstgeschichtlichen und paläographischen Forschung untersucht der Autor acht der neun weitgehend erhaltenen Reichenauer Evangeliare (Aachen, Domschatzkammer, G 25; München, BSB, Clm 4453; München, BSB, Clm 4454; Köln, Erzbischöfl. Diözesan- und Dombib., Cod. 12; Köln, Diözesan- und Dombib., Cod. 218; Erlangen UB, Ms. 12; Nürnberg, SB, Ms. Cent. IV,4 und Baltimore, The Walters Art Museum, Ms. W.7). Die beiden Evangeliar-Fragmente Reichenau, Münsterschatzkammer, s. n., fol. 2r und Brescia, Biblioteca Queriniana, MS.F.II.1, fol. 9v, werden aufgrund des Fehlens von Evangelientext ausgeschlossen, obgleich sie mit einer narrativen Illustration und einer Kanontafel Elemente enthalten, die sonst als »Paracontent« gewertet werden (22). Die acht untersuchten Handschriften stammen aus dem späten 10. und dem 11. Jahrhundert (990 bis 1050/70). Das älteste Reichenauer Evangeliar, das bereits um 900 entstand (heute geteilt: Weimar, Herz. Anna Amalia Bib., 2° 1 und München, BSB, Clm 11019), wird aufgrund seines Alters nicht benutzt (22).2 Die Entscheidung ist bedauerlich, denn gerade im Hinblick auf den spezifischen »Paracontent« hätte es sich sicherlich angeboten, auch einen Blick in das älteste erhaltene Evangeliar zu werfen, um mögliche Veränderungen und Entwicklungen aber auch Kontinuitäten im »Paracontent« zwischen spätkarolingischer, spätottonischer und salischer Zeit herauszuarbeiten.

Im Zentrum der Untersuchung steht das von Anton van Euw gewonnene Konzept der Evangeliare als »Schatztruhe des Wortes Gottes«3 (19), für das zunächst der schriftliche und dann der pikturale »Paracontent« eingehend untersucht werden (63–181). Innerhalb des »Paracontent« wird dazu ein »Apparatus« definiert, zu dem der Autor diejenigen Elemente rechnet, die sich »regelhaft in den Handschriften finden« (63), wobei »diese Ausstattung nicht in allen Codices in vollem Umfang« enthalten ist (64). Eine Übersicht, welche Teile des »Apparatus« (62–63) in welcher Handschrift vorkommen, wäre hier wünschenswert gewesen. Innerhalb des »Apparatus« wird nochmals zwischen »Paracontent«, der sich auf die Gesamtheit der Evangelien bezieht und solchem für einzelne Evangelien unterschieden. In einer eingehenden Untersuchung gelingt es dem Autor herauszuarbeiten, dass alle untersuchten Evangeliare dem gleichen Schema folgen, bei dem allgemeine Elemente am Anfang stehen, »Paracontent«, der sich nur auf einzelne Evangelien bezieht, vor dem jeweiligen Evangelium und der liturgisch genutzte Index des Capitulare evangeliorum am Schluss (179–180). Zugleich sind die Codices durch »eine ausgefeilte Schrifthierarchie« gegliedert, die dem Benutzer die Navigation erleichtert. Diese Hierarchie, wie auch der Einsatz bildlicher Gliederungselemente, sind jedoch nicht einheitlich, weshalb der Autor nicht von »stringenten Anlagekonzepten« ausgeht, sondern einen »konzeptionellen Rahmen« für Evangeliare erkennt (181).

Anschließend widmet sich der Verfasser gewinnbringend den »Manifestationen der liturgischen Lesenutzung« (185–283), für die er nach Spuren liturgischer Nutzung in einzelnen Evangeliaren sucht und die Rolle des Evangeliars in der Messe aufarbeitet. Obgleich alle Manuskripte »Paracontent« aufweisen, der eine liturgische Nutzung ermöglicht, findet der Autor nur in manchen Ergänzungen, die einen entsprechenden Gebrauch auch belegen. Vennebusch hält es daher für möglich, »dass die Evangeliare vorrangig als Christusrepräsentanz oder materielle Manifestation des Wortes Gottes« eingesetzt wurden und die Perikopen auswendig oder aus anderen Büchern (Evangelistaren) vorgetragen wurden (283).

Der Abschluss der Studie befasst sich mit der »Sprache der Miniaturen« (287–402). Dem Autor gelingt es hier, die enge Verknüpfung von Bildprogramm und »core-content« zu zeigen, bei dem die Miniaturen komplexe Informationen vermitteln und die Verbindung und Transformation von Offenbarung und materiellem Objekt visualisieren.

Dem Band ist ein umfangreicher Anhang beigegeben. Der erste Teil (408–421) bietet wesentliche Texte des »Apparatus«, die aus der Edition der »Prefaces to the Latin Bible« von Donatien De Bruyne übernommen wurden,4 und eine deutsche »Arbeitsübersetzung«, die manchmal etwas umständlich ist, den Text aber verständlich ins Deutsche überträgt. Es folgen Tabellen und ein Katalog mit Beschreibungen der acht Evangeliare (435–441) samt detaillierten Inhaltsangaben. Den Abschluss bilden Farbtafeln, die insbesondere den pikturalen »Paracontent« illustrieren. Für die leichtere Benutzung des Bandes wären ein Handschriftenregister und ein Index wünschenswert gewesen.

Vennebusch zeigt Evangeliare als funktionale Einheiten, bei denen alle Elemente Teil eines größeren Konzepts sind und letztlich der Offenbarung dienen. Mit dem Konzept des »Paracontent« gelingt es dem Autor, die unterschiedlichen Bestandteile der Reichenauer Evangeliare in ihrer Funktionalität zu erfassen. Besonderes Augenmerk wird der Verbindung von Text und Bild zuteil, bei der Bilder zusätzliche Informationen für den Leser des Textes bereitstellen. Die Studie erschließt damit erstmals systematisch-funktional alle Elemente, die den Evangelientext begleiten.

1 Walter Berschin, Ulrich Kuder, Reichenauer Buchmalerei. 850–1070, Wiesbaden 2015, 5–6 + Supplement, 2024, 3.
2 Ebd., Supplement, 20–21.
3 Anton von Euw, Das Buch der vier Evangelien. Kölns karolingische Evangelienbücher, Köln 1989, 6.
4 Donatien De Bruyne (Hg.), Prefaces to the Latin Bible. Introductions by Pierre-Maurice Bogaert & Thomas O'Loughlin, Turnhout 2015.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christoph Walther, Rezension von/compte rendu de: Jochen Hermann Vennebusch, Die Reichenauer Evangelienbücher. Anlagekonzepte, liturgische Lesenutzung und ihr visualisiertes Offenbarungsverständnis, Göttingen (Böhlau Verlag Köln) 2024, 707 S., 226 farb. Abb., ISBN 978-3-412-52178-3, EUR 95,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108072