Der Petit Thalamus von Montpellier gehört zu den für das mittelalterliche Frankreich seltenen Zeugnissen originär städtischer erzählender Geschichtsschreibung. Im Gegensatz zu den äußerst zahlreichen deutschsprachigen Stadtchroniken verfügen französische Städte zwar oft über eine sehr ausführliche Überlieferung aus dem Bereich der Register und anderer Verwaltungsquellen, aber in der Regel nicht über genuin städtische Chroniken oder Annalen. Die Herkunft und genaue Bedeutung des Wortes »Thalamus« gibt innerhalb der Forschung immer noch Anlass zu Diskussionen. Es findet sich zwar auch in Narbonne, normalerweise verwandten städtische Regierungen für Schrifttum aus ihrer eigenen Tätigkeit jedoch andere Benennungen wie cartulaire, registre, livre noir (oder andere, oft von der Farbe des Einbands abgeleitete Namen). Ursprünglich bezeichnete das aus dem Griechischen stammende, ins Lateinische übernommene Wort Thalamus ein Schlafzimmer, ein Ehebett oder ein anderes, fremden Blicken entzogenes Zimmer eines Hauses bzw. den heiligsten Teil eines Tempels. Eine davon abweichende Interpretation, die in dem Wort eine verfälschende Ableitung vom Wort Talmud sah, wird von den Herausgebern auch deshalb verworfen, weil Juden nach gewohnheitsrechtlichen Bestimmungen vom Anfang des 13. Jahrhunderts in Montpellier keine städtischen Ämter ausüben durften (13, 22). Thalami existierten dort in zwei Formen, als petits und als grands thalami (drei erhaltene Handschriften, größeres Format; im Gegensatz zum ersten Typ, abgesehen von einigen Texten in ms. AA 4, in Latein abgefasst; Unterschiede zu den petits thalami hinsichtlich der Entstehungszeit und Funktion).

Die vorliegende Edition des Textes der okzitanischen Annalen, die durch eine ihnen direkt gegenübergestellte neufranzösische Übersetzung und einen historischen Kommentar ergänzt werden, gehört zu den Ergebnissen eines von Vincent Challet koordinierten interdisziplinären Projekts (2011–2014), an dem Historiker, Kunsthistoriker, Philologen, Linguisten und Juristen mitwirkten. Dieses Projekt trug ebenfalls den Namen Thalamus und diente der Edition der städtischen livres de gouvernement Montpelliers. Es wurde sowohl von der Agence nationale de la recherche, der École des chartes als auch der Universität Paul-Valéry, Montpellier gefördert. Im Vordergrund stand dabei die elektronische Edition der Texte entsprechend dem TEI-Standard (Text Encoding Initiative). Die unter der Adresse http://thalamus.huma-num.fr/ (eingesehen 15. August 2024) zugängliche elektronische Edition umfasst acht Handschriften aus Archiven und Bibliotheken in Nîmes (nach 1260, Ergänzungen bis 1276); Brüssel (nach 1258); Paris (drei Handschriften: nach 1261; nach 1270, Ergänzungen bis Anfang 14. Jh.; nach 1270); Montpellier (nach 1315, Ergänzungen bis ins 17. Jh.) und den Archives départementales de l’Hérault (1961 erstellter Microfilm einer heute verlorenen Handschrift). Im Buch werden die Handschriften auf S. 23–31 vorgestellt, eine Liste der Petits Thalami befindet sich auf S. 28–29. Die elektronische Edition soll den Prozess der Textüberlieferung in komplexerer Form verdeutlichen, während die hier besprochene gedruckte Form nur einen Teil dieses Textkorpus, die »Annales occitanes« aus der Handschrift ms. AA 9 des Stadtarchivs von Montpellier umfasst. Diese Handschrift wurde als Basis gewählt, da sie aus der Sicht der Editoren ein historiografisches Projekt und den vollendeten Textzustand repräsentiert (92). Der gedruckte Text ist identisch mit der online publizierten Version. Er aktualisiert eine aus dem 19. Jahrhundert stammende ältere Edition (1836–1840), indem er die seit damals erreichten wissenschaftlichen Erkenntnisse mit einbezieht (9). Vor dem eigentlichen Text der Annalen steht ein einführender Teil. Philippe Martel beginnt mit einer allgemeinen Einleitung. Anschließend stellt Pierre Chastang das Quellenkorpus, seine Genese, die handschriftliche Überlieferungstradition und ihre Chronologie und die kodikologische Beschreibung der Handschriften vor. V. Challet bietet eine historische Einführung, die Hervé Lieutard durch eine linguistische Charakterisierung ergänzt. Béatrice Beys präsentiert eine kunsthistorische Darstellung mit einigen farbigen Abbildungen aus der Handschrift AA 9 (z. B. Abb. 1 zur Predigttätigkeit von Vinzenz Ferrer in Montpellier 1408, zu verzierten Buchstaben und Randzeichnungen). Gilda Caïti-Russo erläutert die Editions- und Übersetzungskriterien. Danach folgen der Text der Annalen, die sich auf den Zeitraum zwischen 800 und 1426 beziehen und seine Übersetzung; beide sind mit kurzen, unmittelbar auf den Text bezogenen Anmerkungen versehen (G. Caïti-Russo, V. Challet, Gérard Gouiran, Daniel Le Blévec, P. Martel). Am Ende stehen nach Jahren geordnete historische Erläuterungen, die Zusatzinformationen zum Kontext des jeweiligen Jahres und der angesprochenen Personen, Orte und Ereignisse enthalten und im mittelalterlichen Original enthaltene Irrtümer berichtigen (V. Challet, D. Le Blévec, P. Martel). Hinzu kommen Register und einige Hinweise zu Sekundärliteratur und Quelleneditionen.

Inhaltlich gehen die Annalen auf zwei Grundmodelle zurück: die Fastes consulaires, die Jahr für Jahr die Namen der städtischen und weiterer in Montpellier tätiger Amtsträger verzeichneten und die sogenannten avenimens, kurze Hinweise zu wichtigen Ereignissen. Seit 1350 kam es jedoch zu einer Verschmelzung beider Typen (45). Im Laufe der Zeit wurden die erzählenden historischen Teile ausführlicher. Sie liefern wichtige Informationen zur Selbstsicht und -darstellung des mittelalterlichen Montpellier und sehr interessante Beschreibungen bedeutender Ereignisse der Stadtgeschichte. Dazu gehören beispielsweise Herrschereinzüge (z.B. Könige bzw. Königinnen von Mallorca, Navarra, Aragón, Neapel und Frankreich, Durchreise des interessanterweise als emperador rey de Ongria [Kaiser König von Ungarn] titulierten Sigismunds von Luxemburg, 1415); Besuche von hochrangigen kirchlichen Würdenträgern, Adeligen etc. Ausführlich erwähnt werden Prozessionen und ihre Anlässe (u.a. Bitten um Beendigung des kirchlichen Schismas, für die Gesundheit des französischen Königs Karls VI., für Frieden, das Ende oder die Verschonung von Epidemien wie der Pest, Bitten um gute Ernten und Regen, usw.), das Auftreten von Predigern, besonders von Vinzenz Ferrer, der Durchzug von compagnies/routiers und die damit verbundenen Zerstörungen, Wetterereignisse (Überschwemmungen, Unwetter, Trockenheit), Missernten, Erdbeben, Epidemien, politische Ereignisse, Schlachten und Friedensschlüsse in der näheren und weiteren Umgebung und in anderen Ländern. Wie von V. Challet in seinem Beitrag betont, leisteten die Annalen einen zentralen Beitrag zur städtischen Identitäts- und Mythenbildung. In diesem Zusammenhang ist auch der häufige Herrschaftswechsel hervorzuheben: 1204 wurde König Peter II. von Aragón durch Heirat mit der Erbin des Hauses der Guilhems Stadtherr. Sein Sohn Jakob I. von Aragón wurde 1208 in Montpellier geboren. Zwischen 1276–1349 waren die Könige von Mallorca Stadtherren. 1349 kaufte Philipp VI. von Valois die Rechte Jakobs III. an Montpellier auf. Die Konflikte des Mittelmeerraums und Ereignisse in Barcelona, Katalonien, Aragón, Navarra, der Provence und Avignon, Neapel, Italien und Zypern waren für diese Stadt von höchstem Interesse. Mit dem Übergang der Macht und dem wachsenden Einfluss der französischen Könige rückten auch deren Geschicke und Ereignisse in nördlicheren Regionen Frankreichs bzw. Flanderns stärker ins Blickfeld. Französische Erfolge werden nun als Erfolge von nostra gen erwähnt (z.B. Schlacht von Verneuil, 1424). 1391 wurde die Geburt eines Dauphins (eines früh verstorbenen Sohnes Karls VI.) mit ausgedehnten Feiern mit Turnieren und Tanz begangen. Regelmäßig erwähnt werden von den Annalen auch neue Glocken und Glockentaufen, Unruhen und Aufstände in benachbarten Städten und deren Repression usw.

Insgesamt gesehen handelt es sich um ein sehr verdienstvolles und wichtiges Projekt. Die Annales occitanes sind ein hochinteressanter Text, der lebendige Einblicke in das mittelalterliche Stadtleben von Montpellier vermittelt. Die linguistischen Erläuterungen zeigen die Bedeutung und den Nutzen interdisziplinärer Zusammenarbeit. Die historischen Notizen liefern zum Verständnis hilfreiche Hinweise zu Ereignissen, Personen und Kontext – und bezüglich der örtlichen Topographie auch oft unbedingt erforderliche Erklärungen. Die neufranzösische Übersetzung ermöglicht einem weiteren Publikum den Zugang zu diesem bedeutenden Zeugnis mittelalterlicher französischer Stadtgeschichte. Durch die Herrschaftswechsel und die Position Montpelliers zwischen den Königreichen Frankreich, Aragón, Mallorca, Navarra und dem benachbarten Katalonien ist der Band auch für die Geschichte des Mittelmeerraums als solchem von hohem Interesse.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gisela Naegle, Rezension von/compte rendu de: Gilda Caïti-Russo, Daniel Le Blévec, Florence Clavaud (éd.), Le Petit Thalamus de Montpellier. Les »Annales occitanes«, Montpellier (Presses universitaires de la Méditerranée) 2023, 706 p. (Collection »Histoire et sociétés«), ISBN 978-2-36781-501-5, EUR 48,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108138