Johannes Nider (1380/85–1438) war eine der Leuchtfiguren der »Strikten Observanz« im Dominikanerorden in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ein von glühendem Eifer geprägter Ordensreformer und Professor für Theologie an der Universität Wien, der zu den prägenden Figuren des Konzils von Basel in dessen Anfangsjahren zählte. Das Predigerhandbuch Formicarius (»Ameisenbuch«) von 1436/38 spiegelt die kirchlichen und gesellschaftlichen Reformideen Niders wider. Im Rahmen eines Dialogs und unterlegt mit zahlreichen Quellen der patristischen und scholastischen Literatur sowie 160 Wunder- und anderen Beispielgeschichten, rhetorischen exempla, unterrichtet eine Theologus genannte Figur, wohl Niders Alter Ego, die Figur eines Schülers oder jungen Novizen (Piger) über Bedingungen eines reformierten christlichen Lebens, die Sitten tugendhafter und nach Vollkommenheit strebender Menschen sowie die Irrtümer lasterhafter Menschen: Häretiker (v. a. Brüder und Schwestern des Freien Geistes und Hussiten), Abergläubische, Magier, Zauberer und Hexen. Niders Berichte im Formicarius über Hexen im Berner Oberland gehören zu den frühesten Zeugnissen von Hexenverfolgungen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.

Die hier anzuzeigende erste Gesamtedition des Formicarius von Catherine Chène, 2021 als Dissertation an der Universität Lausanne angenommen, wurde in der bekannten wissenschaftlichen Reihe Micrologus-Library (Nr. 118) publiziert. Sie ist das beeindruckende Resultat einer nahezu dreißigjährigen Forschungsarbeit der Autorin, zu der neben einer Reihe von Aufsätzen auch die Publikation einer Teiledition einzelner Kapitel aus Buch 2 und 5 des Formicarius gehörte (Martine Ostorero u. a., L’Imaginaire du sabbat, 1999, 99–265). Im Gefolge der intensiven neueren wissenschaftlichen Beschäftigung mit Nider und seinem Werk seit Anfang der 1990er-Jahre (v. a. Stefan Abel, Michael Bailey, Margit Brand, Bernhard Neidiger und Werner Tschacher) stellen Chènes Edition, Übersetzung und Studienband einen Meilenstein der Nider- und Dominikanerforschung dar.

Der erste Band des monumentalen Werks enthält in Teil 1 in umfassender Kenntnis von Quellen und Forschung abgefasste Studien zur Biographie Niders (11–50), zu seinen lateinischen und deutschen Werken, den 15 Traktaten, drei Predigtsammlungen und 21 Hirtenbriefen (51–76), zum Formicarius (77–88) und zu dessen Überlieferung in Handschriften und Inkunabeln (89–143). In Teil 2 werden die Quellen des Werks behandelt, insbesondere das vom Formicarius vertretene, naturphilosophisch inspirierte Genre der katechetischen Literatur, zu dem auch das »Bienenbuch« des Thomas von Cantimpré Bonum universale de apibus (1256/63) gehört (147–205). Es folgen Kapitel über die Wunder- und Beispielgeschichten samt Aufschlüsselung der Gewährsleute, der in den Erzählungen angesprochenen sozialen Gruppen und deren historische und geographische Verortung (207–229), sowie eine Aufstellung der im Werk herangezogenen literarischen Autoritäten (231–244). Im umfangreichen Teil 3 wird die Programmatik des Formicarius behandelt, zu der die Wege der spirituellen Entwicklung zur Vollkommenheit ebenso zählen, wie eine Bestandsaufnahme der von Nider konstatierten Irrtümer der christlichen Gesellschaft und Bedrohungen durch den Teufel (245–556). Der beigefügte Anhang des ersten Bandes enthält eine kommentierte Übersicht der verschiedenen Eigenschaften der Ameise, mit denen mehrere Kapitel des Werks eingeleitet werden (559–579) sowie eine Liste der Wunder- und anderen Beispielgeschichten (581–605). Abkürzungsverzeichnis, Bibliographie sowie Register mit Orts- und Personennamen, Quellen und Handschriften runden den Studienband ab. Der zweite Band beinhaltet die sorgfältige Edition des lateinischen Textes und synoptisch eine französische Übersetzung (27–1137), davor Niders Prolog (3–7) und das Inhaltsverzeichnis mit den jeweils 12 Kapitelüberschriften der fünf Bücher des Werks (9‑25). Im Fußnotenapparat finden sich, typographisch getrennt, die Textvarianten der Handschriften und die inhaltlichen Kommentare, Quellenangaben sowie erklärende Informationen.

Verdienstvoll sind die weitgehend auf der Basis der älteren und jüngeren Nider-Forschung erstellten Abschnitte des Studienbands wie die Biographie Niders, eingeleitet von einem kontextualisierenden Überblick zur Reform der Konvente in der dominikanischen Ordensprovinz Teutonia, deren zweite Phase (1426–1475) unter dem Ordensgeneral Barthélemy Texier Niders erfolgreiches Wirken bis zu seinem Tod im August 1438 prägte. Chène gelingt es beeindruckend, die Ordens- und Universitätskarriere des Sohns eines Flickschusters aus Isny im Allgäu und sozialen Aufsteigers in wesentlichen Konturen und vielen Details darzustellen und umstrittene Fragen ausgewogen zu bewerten. Kompakt zusammenfassenden Charakter haben die auf detaillierter Quellenanalyse und prononciert auf den Studien Chènes und anderer Forscher der Lausanner Arbeitsgruppe um Agostino Paravicini Bagliani basierenden Ausführungen über das den Zauberern, Hexen und Besessenen gewidmete 5. Buch des Formicarius, wobei Chène einen schlüssigen Konnex zwischen der weit verbreiteten Angst der Menschen vor den Umtrieben des Teufels und der auf die Reform der Gesellschaft abzielenden Gesamtintention des Werks herstellt (473–556). Die Reformer begreifen sich in Niders Sicht als diejenigen, die seit langer Zeit die »Last des Krieges gegen die Zornesausbrüche der Dämonen getragen haben« (Vol. 2, III,3, S. 530: »nos, qui onus belli diu contra iras demonum portavimus«).

Die wichtigsten neuen Erkenntnisse der Arbeit Chènes betreffen die Programmatik und die handschriftliche Überlieferung des Werks. Die Autorin arbeitet klar die Zielgruppe des Formicarius heraus: Seelsorger, Prediger, Exorzisten sowie jüngere Observanten des Ordens, die, verunsichert durch die Krisen einer von zahlreichen Missständen erschütterten Kirche, mit kapitelweise vorgebrachten Lehrsätzen (vgl. z. B. 253–260) von der Notwendigkeit einer von den Idealen freiwilliger Armut und Keuschheit geprägten Reform der christlichen Gemeinschaft nach dem Vorbild des Ameisenstaates überzeugt werden sollen (83–88, 297). Die Autorin analysiert erstmals detailliert die moralischen Eigenschaften der Ameise als Gliederungs- und Interpretationsschema und liefert damit den entscheidenden Schlüssel zum Gesamtverständnis des Werks, wobei, so die kuriose Feststellung Chènes, den 60 Kapiteln des Werkes von Nider 70 statt 60 Eigenschaften zugeordnet wurden.

Äußerst sorgfältig fällt die Beschreibung der 24 überkommenen Handschriften des Formicarius aus, von denen 19 den vollständigen Text des Werkes enthalten und von Chène für die Edition kollationiert wurden. Die Autorin unterteilt diese in zwei Handschriftenfamilien mit weiteren Unterfamilien: Die erste Familie geht von dem auf 1455 datierten Basismanuskript (M1) der Benediktinerabtei Melk (Stiftsbibliothek, cod. 306) aus; zu dieser gehören neun weitere Handschriften in Basel, Göttweig, Lilienfeld, München und Wien. Die zweite Familie umfasst neun durch vergleichbare Auslassungen und Nähe zu den ältesten Formicarius-Inkunabeln gekennzeichnete Handschriften in Augsburg, Darmstadt, Innsbruck, Köln, London, München, Straßburg, Valenciennes, Wiesbaden (95–133). Das von Chène entworfene Stemma geht nachvollziehbar von zwei Verbreitungszentren um 1450 aus, dem Dominikanerkonvent in Basel und der Benediktinerabtei Melk (141).

Kleinere Fehler trüben den positiven Gesamteindruck nicht: Einzelne Verschreibungen insbesondere von Eigennamen, z. B. Gustav statt Gabriel Löhr (17) oder Hermann van der Hardt statt von der Hardt (91), sollten in einer zweiten Auflage ebenso korrigiert werden, wie Jakob Sprengers in der Forschung seit langem konstatierte unzutreffende Co-Autorenschaft des Malleus Maleficarum (93).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Tschacher, Rezension von/compte rendu de: Catherine Chène, Le Formicarius de Jean Nider O.P. († 1438). La société chrétienne au miroir de l’Observance, Firenze (SISMEL – Edizioni del Galluzzo) 2024, X–702; V–1137 p. (Volume 1. Tradition, sources, enseignements. Volume 2. Édition et traduction), ISBN 978-88-9290-282-4, EUR 190,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108141