Die vorliegende Publikation dokumentiert die Beiträge einer Tagung zu Konfigurationen des Wunders, die im September 2021 in Berlin stattfand. Die im Aufsatzband vereinigten Einzelstudien nehmen unterschiedliche Aspekte der literarischen Form, der Praxis und der Funktion von Wundern in Textzeugnissen von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit unter die Lupe. Der Schwerpunkt liegt auf dem Mittelalter, wobei gleich mehrere Beiträge thematisch um Wunder aus dem Umfeld der Marienfrömmigkeit kreisen. Das Sammelwerk ist durch einen interdisziplinären Ansatz geprägt, indem es eine Zusammenschau historischer, theologischer und literaturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen des Wunders bietet.
Nach einer instruktiven Einleitung der Herausgeberinnen (7‑20) ist eine erste Sektion dem Themenkomplex »Typologien und Traditionen« gewidmet. Den Auftakt bildet der Beitrag von Gabriela Signori zu mittelalterlichen Marienwundern und Marienmirakeln (23–48). Zur konzeptuellen Schärfung ihrer Argumente arbeitet die Autorin mit einer etwas ungewöhnlichen Begrifflichkeit, indem sie für das literarische Wunder den Begriff »Mirakel« verwendet, während sie den Terminus »Wunder« dem Wunder als religiöser Vorstellung und Praxis vorbehält. Das in der hagiographischen Lebensbeschreibung einen konstitutiven Teil der Vita der Gottesmutter darstellende Marienmirakel kreiere eine religiöse Phantasiewelt und verkünde eine radikale Theologie der grenzenlosen Barmherzigkeit Marias, durch deren Fürsprache bei Gott alle reuigen Sünder Vergebung erfahren. In den von der Vita losgelösten postmortalen »Schreinwundern« Marias, die durch Anrufung ihrer Reliquie oder ihres Bildes bewirkt werden, gehe es hingegen gewöhnlich nicht um die Befreiung der Seele von der Sündenlast und um die moralische Besserung des Menschen, sondern um den Körper und dessen Heilung. Ruben Zimmermann veranschaulicht am Beispiel der Wunder aus der im 5. Jahrhundert entstandenen Schrift Leben und Wunder der Heiligen Thekla die Dynamik der Gattung »Wundererzählung«, die sich durch die Bereicherung um neue Elemente als fluides literarisches Ausdrucksmedium zeige (49–78). Der unbekannte Autor nutze in seinem Werk die Kommunikationssignale der traditionellen Wundererzählung und entwickle sie weiter, um die Bedeutung des Theklaheiligtums im isaurischen Seleukia abzusichern und zu stärken.
Die zweite Sektion des Sammelbandes ist mit »Deutung und Geltung« überschrieben. Zunächst wendet sich Henrike Manuwald mit »Wunder, aber keine Zeichen?« den Kindheitswundern Jesu in der Vita virginis Marie et Salvatoris rhythmica und deren deutschsprachigen Bearbeitungen zu (81–109). Sie zeigt auf, dass die aus dem Pseudo-Matthäusevangelium bekannten Wunder des Jesusknaben sich auch zu Beginn des Spätmittelalters großer Beliebtheit erfreuten und die Marienleben sich intensiv mit der Frage ihres Zeichencharakters für die Messianität Jesu auseinandersetzen. Unter dem Titel »Am Anfang war das Wunder« (111–124) geht Mirko Breitenstein am Beispiel der Silvestriner, Gilbertiner und Dominikaner der legitimatorischen Funktion von Wundern bei der Gründung religiöser Orden nach. Wunder dienten in diesem Kontext dazu, Tradition zu stiften, umstrittene Strukturen zu legitimieren und die Heiligkeit von Leitfiguren geistlicher Gemeinschaften zu unterstreichen. Speziell dem Beichtwunder Karls des Großen, der gegenüber seinem Beichtvater Egidius das konkrete Bekenntnis einer schrecklichen Sünde verweigert, in einem wunderbarerweise vom Himmel herabkommenden Brief dennoch Sündenvergebung erfährt und daraufhin von Egidius auch formell die Absolution empfängt, gilt das Interesse von Sarah Bowden (125–141). Sie verweist auf den theologisch problematischen Charakter des Beichtwunders, das die Glaubenskraft der Rezipienten auf die Probe stelle. Zudem untersucht sie die Rolle des Beichtwunders in der Kaiserchronik, wo es das Ausmaß von Karls Macht demonstriere, die bis hin zur Manipulation geistlicher Hierarchien reiche.
Es schließt sich eine dritte Sektion mit Studien zum Thema »Modellierung durch Heils-Geschichten« an. Unter dem Leitmotiv »Konfigurationen der Fürsorge« (145–165) beleuchtet Nina Nowakowski exemplarisch die sozialen Dimensionen religiösen Heils in Marienmirakeln aus dem Passional, einem mittelalterlichen Werk zum Leben und Leiden der Heiligen. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Marienmirakel spezifische Angebote für Menschen in Notlagen machen und das Vertrauen in die Hilfe Marias stärken, indem sie veranschaulichen, dass ihre wundertätige Fürsorge von allen Gläubigen konkret erfahren werden kann. Christoph Dartmann arbeitet in seinem Beitrag über »Wunder im Zeitgefüge hochmittelalterlicher lateinischer Historiographie« (167–184) am Beispiel der Vita Arialdi des Andrea von Strumi und der Chronica des Helmold von Bosau erhellend heraus, wie geistliche Autoren des 11. bzw. 12. Jahrhunderts Wundererzählungen in das temporale Gefüge größerer narrativer Darstellungen einordnen. Das Interesse von Lara Schwanitz gilt dem mehrfach überlieferten Gebetswunder des Rosenkranzes (185–208), dem zufolge einem Mönch bei jeder Gebetsstrophe des Ave Maria eine Rose aus dem Mund wächst und die ihm erscheinende Gottesmutter daraus einen Kranz flicht, mit dem sie sich schmückt und entschwindet. Die vergleichende Analyse der Erzählversionen dieses Wunders im Passional, in zwei spätmittelalterlichen Gebetbuchhandschriften und in der Zwanzig-Exempel-Schrift zeige, dass sich dort unterschiedliche Heilsvorstellungen widerspiegeln und das Wunder religiöse Praktiken wie das fünfzigfach gesprochene Ave Maria oder das Rosenkranzbeten legitimieren will.
Den Abschluss des Bandes bildet eine vierte Sektion, die mit »Evidenz und Episteme« überschrieben ist. Susanne Spreckelmeier behandelt in ihrem Beitrag »Dy gancze warheít« (211–242) die narrativen Strategien der Evidenzerzeugung in der Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen Mariendichtung Heinrichs des Klausners. Dort werde die legitimationsbedürftige Aussage von Marias den Leib wie die Seele umfassender Aufnahme in den Himmel in die Erzählform der wunderbaren Selbstoffenbarung Marias gekleidet, die zur Verbürgung der Wahrheit verschiedenste Strategien der Evidenzherstellung biete. Daniel Weidner geht unter dem Titel »Ostentation, Wirklichkeit und Schein« der Theatralität der Wunder in der Frühen Neuzeit auf den Grund (243–257). Vor dem Hintergrund der durch die Aufklärung und das naturwissenschaftliche Denken entfachten Diskussion um die Wunder werde das Theater zum Raum, in dem Wunder nicht nur gewusst und geglaubt, sondern in ihrer gespenstischen Ambivalenz zwischen Täuschung und Schein, Anwesenheit und Abwesenheit auch erfahren würden. Jutta Emings Interesse schließlich gilt dem synkretistischen Wunder im späthöfischen Roman, das am Beispiel der Himmelstuhlepisode aus dem im 14. Jahrhundert verfassten Abenteuerroman »Wilhelm von Österreich« des Johann von Würzburg veranschaulicht wird (259‑282). Dabei geht es um einen angeblich vom römischen Dichter Vergil mithilfe von Zauberkunst geschaffenen goldenen Stuhl, der als eine Art Sessel-Automat den Romanhelden in das Universum trägt und ihm eine Reise durch die himmlischen Gefilde ermöglicht.
Insgesamt stellt der Aufsatzband eine ebenso kurzweilige wie anregende Lektüre dar. In der Summe seiner Einzelteile bildet er einen breit gefächerten Diskussionsstand über literaturwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte der Wunderthematik ab. Die einzelnen Beiträge bewegen sich durchweg auf hohem Niveau und bestechen durch eine große thematische Vielfalt. Sie bieten spannende Einblicke in sehr unterschiedliche und teilweise wenig bekannte Wundertexte von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit. Das durch alle Epochen hindurch ungebrochene Faszinationspotenzial des Wunders, das nicht nur der Glaubensstärkung dient und die Phantasie befeuert, sondern auch auf die Belehrung abzielt und immense Legitimationskraft besitzt, kommt in dem sehr lesenswerten Sammelwerk anschaulich zur Sprache.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Bernd Kollmann, Rezension von/compte rendu de: Nina Nowakowski, Elke Koch, Julia Weitbrecht (Hg.), Konfigurationen des Wunders. Texte, Praktiken und Funktionen in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2024, 282 S. (Beiträge zur Hagiographie, 26), ISBN 978-3-515-13567-2, EUR 54,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108144