Die Anzahl an Gesamtdarstellungen zur Geschichte des byzantinischen Reiches lässt sich kaum mehr überblicken. Wir können darin in gewissem Sinn auch ein positives Zeichen sehen, dass nun ein jahrhundertelang vernachlässigter historischer Raum weltweites Interesse gefunden hat. Trotzdem gelang es nur in bescheidenem Umfang, alte Vorurteile über das Weltreich zwischen Europa und Asien aus dem Weg zu räumen. Die Fülle der Fakten und Realien, die intensiven Forschungen zu verdanken ist, hat die negativ konnotierten Grundkomponenten, tief verankert in vielen Bildungsschichten, nur in verschwindend geringem Maße beeinflusst. Die überwiegende Mehrzahl der Darstellungen lebt weiterhin von der historischen Sicht der Terminologie des Westens, Mittelalter bis in die Gegenwart, die immer den Osten mit den Augen des Westens beurteilte und wertete. Die vorliegende Darstellung des Wiener Byzantinisten unternimmt erstmals einen konsequenten Versuch, diese eingefahrenen Wege der Betrachtung zu sprengen.
Der Titel des Bandes (sicherlich auch von Verkaufsüberlegungen des Verlages beeinflusst) bereitet (Verf. und mitdenkenden Lesern) Schwierigkeiten. »Byzanz« lässt sich nicht vermeiden, obwohl der Verf. selbst im Text den Begriff vermeidet. Denn eben in dieser Bezeichnung liegt der »Inbegriff« der meisten Missverständnisse. Aber sie lässt sich auch nicht recht umgehen, weil sie seit Jahrhunderten ein fester Bestandteil in der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussion ist und gewissermaßen aus der Wissenschaftsgeschichte nicht mehr wegzudenken ist. Der Untertitel »Das Neue Rom und die Welt des Mittelalters« kommt Intention und Inhalt des Buches sicher näher, denn das »Neue Rom« wurde in der Rhetorik der Schönen Literatur häufig als Synonym für Konstantinopel gebraucht, während die Beiordnung zur »Welt des Mittelalters« auch gleichzeitig eine zutreffende Distanz zum »Neuen Rom« darstellt, das nicht unbedingt dem Mittelalter angehören muss. Wir wissen, wie sehr der Begriff »Mittelalter« heute wieder der Diskussion unterworfen ist. Hier geht es nicht darum, ob »Byzanz« ein Teil des Mittelalters ist (was der Rez. verneinen würde), sondern zu einer Zeit existierte, die man gemeinhin als »Mittelalter« bezeichnet. Diese Problematik wird im Buch nur kurz angeschnitten, aber sie ist dem Verf. bewusst und zieht sich als Leitfaden durch das Buch. In dieser Distanz zu den traditionellen Anschauungen liegt der große Fortschritt, den dieses Buch aufzuweisen hat.
Das Buch ist zum großen Teil der staatlich politischen Geschichte gewidmet, die linear chronologisch von der ideologischen Neuorientierung unter Konstantin d. Gr. bis zum Untergang 1453 abgehandelt wird. Die klassischen Grenzen der Herrschaftszeiten der Kaiser und (später) der Dynastien werden von inhaltlich griffigen Überschriften bestimmt (etwa: »Römer, die sich neu erfinden« für den Zeitraum 636–1025). In diesem System verliert auch die quälende Frage »Wann beginnt Byzanz?« ihre scheinbar so gravierende Bedeutung, auch deshalb, weil der Verf. von einem kontinuierlichen Römertum, auch Römerempfinden, ausgeht. Das neue Rom blieb, das alte verschwand, aber der Staat ging kontinuierlich weiter. Die sieben Kapitel werden von den Zeitgrenzen 476, 636, 1025 und 1261 markiert, und im letzten Abschnitt mit der Romidee bis in die Gegenwart weitergeführt. Die staatliche Geschichte lässt der Autor (übereinstimmend mit vielen Quellen) mit der Herrschaft des Augustus beginnen – vielleicht sollte sie doch mit der legendären Gründung Roms anfangen (wie dies Michael Psellos in seiner historia syntomos tut), und sie endet 1453. Die Bewohner dieses Reiches sind (seit Caracallas Edikt 212) selbstverständlich Römer, keine »Rhomaier« und schon gar keine »Byzantiner«.
Der Verf. erzählt den historischen Stoff wie seine jeweiligen Leitbilder, Theophanes, Skylitzes, Niketas Choniates oder Pachymeres, nicht ohne korrigierende Linien, da es ja nicht um eine Nacherzählung, sondern eine Gesamtdarstellung mit den Erkenntnissen der modernen Forschung geht. Aber man spürt immer den Hintergrund der Quelle, die vom Wissen der Sekundärliteratur geleitet wird, auch wenn dieses Wissen nicht immer breit ausgelegt ist, und man sich über Spezialinhalte, wie beispielsweise die Themenreform, dann vielleicht doch in einem Handbuch klassischen Stils informieren muss. Dank dieser Erzählform gewinnt die Politik des Reiches auch für den Leser ihre gewünschte Ausrichtung auf ein »Reich des Ostens«. Dieser Schwerpunkt auf dem Osten ist ein enormer Gewinn für das Buch. Das Oströmische Reich war Teil einer eurasiatischen Komponente, in dem der Westen nur eine Nebenrolle spielte. Daher sind jene Abschnitte, die sich mit Katastrophen (Erdbeben, Hunger, Seuchen) und (oft daraus resultierenden) Migrationen im asiatischen Raum bis China auseinandersetzen – worüber der Autor selbständige größere Arbeiten verfasst hat – in diesem Buch so wichtig, weil sie zeigen, wo die eigentlichen wirtschaftlichen und politischen Schwerpunkte dieses Staates lagen, auch wenn der größere Umfang an heute vorhandenen Quellen dem Westen den Vorzug gibt.
Der Autor musste als Preis für die ausführliche geopolitische Zentrierung seiner Darstellung in Kauf nehmen, dass dem kulturellen und geistigen Leben weniger Raum zur Verfügung stand. Wer Kulturgeschichte sucht, wird hier nicht allzu viel davon finden. Diese Tatsache ist sicherlich etwas zu bedauern, denn die kulturgeschichtlichen Leistungen sind ein wesentliches Charakteristikum der Selbständigkeit und der Abgrenzung vor allem zum Westen.
Es ist dem Verf. gelungen, auf 350 Seiten im Taschenbuchformat und in einem bequem lesbaren Layout, 1000 Jahre Geschichte auf ganz neuen Wegen zu bewältigen. Gerade diese neuen Wege wollte die Rezension stärker betonen und weniger den Inhalt nacherzählen, mit dem der Leser selbst sich vertraut machen sollte. Sicherlich wird, auch unter den Spezialisten, nicht jeder, der das Buch zur Hand nimmt, mit dieser Richtung einverstanden sein. Die Forschung wird auf Dauer aber nicht umhinkönnen, ein lange gewohntes und in seinen Pattern vertrautes Bild dieses Staates in den Hintergrund zu rücken. Nur auf diese Weise kann es gelingen, dass die eigenständige Mentalität des oströmischen Staates endlich auch von der modernen öffentlichen Meinung akzeptiert wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Peter Schreiner, Rezension von/compte rendu de: Johannes Preiser-Kapeller, Byzanz. Das Neue Rom und die Welt des Mittelalters, München (C. H. Beck) 2023, 352 S., 9 Kart., 8 Abb. (C.H. Beck Geschichte der Antike), ISBN 978-3-406-80680-3, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108154