Der vorliegende Sammelband greift mit der Frage nach Religionsgesprächen und -polemiken eine wichtige Thematik auf. Er geht zurück auf eine Tagung, die im Oktober 2019 auf der Insel Reichenau stattfand. Für die Publikation wurden die seinerzeit gehaltenen Vorträge überarbeitet (wenngleich in sehr unterschiedlicher Form) und um mehrere zusätzlich eingeworbene Beiträge ergänzt. Der Band selbst bietet die Beiträge ohne Zwischengliederung; ein klares Strukturkriterium ist nicht auszumachen.

Eröffnet werden die Vortragsbeiträge mit einer philosophiehistorischen Ortsbestimmung zum Verhältnis von Religion und Theologie im lateinischen – christlichen! – Mittelalter durch Andreas Speer. Sein Grundgedanke ist, dass ein Religionsgespräch nur deswegen möglich sei, weil auf der gleichen epistemischen Grundlage diskutiert werde. Es folgen mehrere Beiträge, die Einzelaspekte lateinischer Berichte über echte oder imaginierte Religionsdialoge beleuchten. Den Auftakt macht Carmen Cardelle de Hartmann, die den breit überlieferten Dialogus des Petrus Alfonsi auf dessen Darstellung des alten – jüdischen – Ichs des Verfassers (»Mose«) untersucht. In meinen Augen ist sie zu optimistisch in der Verortung dieses Mose in der talmudisch-rabbinischen Tradition, die zu dieser Zeit in Europa noch längst nicht so verbreitet war, wie es der Beitrag nahelegt. Hans-Werner Goetz befragt den Konversionsbericht des Hermannus Iudaeus auf die Stichhaltigkeit der Argumentationen im berichteten Gespräch zwischen Hermann und Rupert von Deutz. Johannes Heil zeigt mit einer Reihe von Beispielen auf, wie Alltagsgespräche zwischen Christen und Juden stattgefunden haben müssen, die sich jenseits von dogmatisch-theologischen Fragen abgespielt haben. Ursula Ragacs analysiert und ergänzt eine Detailfrage, die in einer umfassenden Darstellung von Albertus Magnus durch Alexander Fidora1 offengeblieben war. Milan Žonca zeigt die verschiedenen Ebenen der religionspolemischen Argumentation in Lipman Mühlhausens Sefer ha-Niẓaḥon auf. Christian Jörg gibt eine Zusammenfassung seiner Habilitationsschrift2 und zeigt auf, wie die Disputation von Tortosa (1413/14) im Dekret De Iudaeis et neophytis (1434) des Baseler Konzils einen Widerhall gefunden hat. Sina Rauschenbach gibt eine Einführung in Salomon Ibn Vergas Darstellung der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung von der Iberischen Halbinsel in den Jahren 1492 und 1498. Margit Mersch stellt die Gespräche zwischen griechisch-orthodoxen, für eine Reunion mit dem römischen Katholizismus offenen Theologen und lateinischen Mendikanten auf Kreta im 14. und 15. Jahrhundert dar. Matthias Tischler zeigt am Beispiel lateinischer Dialoge des 12. bis 14. Jahrhunderts auf, dass die Darstellung der Muslime eher schemenhaft – oder wie er schreibt: fiktiv – bleibt. Für diesen Beitrag böte sich ein Vergleich mit der zeitgenössischen griechischen Tradition, z. B. bei Manuel II. Palaiologos, an, weil dort die Sachlage eine andere ist. Georg Strack stellt die Epistola ad Mahometum des Papstes Pius II. in den Kontext mittelalterlicher Missionsschreiben und diskutiert ihre spätere Rezeption. Matthias Maser gibt im »begrenzten Rahmen eines Aufsatzes« (393 – sein Aufsatz umfasst mehr als 100 Seiten!) eine systematisierende Übersicht über die Argumentationsstrukturen lateinischer Mohammedviten seit dem 9. Jahrhundert. Gerahmt wird der Band von einer sehr allgemein gehaltenen Einleitung der Herausgeberin sowie einer Zusammenfassung von Wolfram Drews mit dem Versuch einer Systematisierung der Beiträge.

Jeder der Aufsätze ist für sich lesenswert und wird die jeweilige Fachdiskussion bereichern.

Dennoch weist der Sammelband zwei strukturelle Defizite auf: Zum einen irritiert die sehr unterschiedliche Länge der Beiträge, die von elf bis 112 Seiten reicht. Auch wenn Gleichförmigkeit in der Wissenschaft kein Ziel sein darf, wäre hier eine Ausgewogenheit herzustellen. Zum anderen leidet der Sammelband daran, dass die im Buchtitel benannten Begriffe »Religion«, »Gespräch« und »Polemik« nicht definiert sind. Matthias Tischler benennt dieses Problem sogar eigens in der einleitenden Fußnote seines Beitrags (320, Anm. 1). Gegenwärtig wird allein an zwei nordrheinwestfälischen Universitäten in großen Verbundprojekten zum Religionsbegriff geforscht – hier könnte Expertise fruchtbar gemacht werden. Aber selbst wenn man davon absieht: Dass Petrus Alfonsis Dialog kein stattgehabtes Gespräch reflektiert und wenn auch nur ansatzweise eine Religionspolemik darstellt, ist ebenso offenkundig wie die Tatsache, dass eine exzellente philologiehistorische Herleitung wie die von Ursula Ragacs aus einer Kommentarnotiz bei Albertus Magnus weder einen Dialog noch eine Polemik generieren kann. Die Reihe ließe sich fortführen.

So bleibt am Ende festzuhalten, dass der Band trotz teilweise herausragender Forschungsergebnisse und eines vielversprechenden Titels nicht über den Status einer Buchbindersynthese herauskommt.3

1 Alexander Fidora, Albertus Magnus und der Talmud, Münster 2020.
2 Christian Jörg, Ut evitetur nimia conversatio. Christen und Juden im Umfeld der Konzilien von Konstanz (1414–18) und Basel (1431–49), Trier: unveröffentlichte Habilitationsschrift 2011.
3 Der Band ist gut lektoriert, und es fielen nur wenige Druckfehler auf: S. 91 lies Acta 21,21 (statt 21,31), S. 355, 357, 366 ist bei der Konvertierung der Beiträge ein »ss« statt eines »ß« stehen geblieben, S. 365 lies »Tora« statt »Thora«, S. 371 lies »Friedrich« statt »Friedrichs«.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Görge K. Hasselhoff, Rezension von/compte rendu de: Christine Reinle (Hg.), Religionsgespräche und Religionspolemik im Mittelalter, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2023, 549 S. (Vorträge und Forschungen, 96), ISBN 978-3-7995-6898-2, EUR 68,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108155