Die Entdeckung, Untersuchung und Publikation jüdischer archäologischer Stätten stellen seit vielen Jahren ein Desiderat der Forschung dar. Obgleich archäologische Forschung zum Judentum und ihren religiösen Stätten seit langem betrieben wird, existiert bis heute kein entsprechendes nationales bzw. europäisches Forschungsprogramm. Auch das von den deutschen Wissenschaftsakademien initiierte Langzeitprojekt zu den über 2000 jüdischen Friedhöfen in Deutschland konzentriert sich vor allem auf die lokal- und regionalgeschichtliche Erforschung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Friedhöfe. Auch wenn in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche archäologische Untersuchungen vornehmlich an Orten durchgeführt wurden, in denen Ritualbäder, Synagogen oder Nekropolen vermutet wurden, sind Forschungsarbeiten zur Archäologie des Judentums selten systematisch, da jeweils ein eigenes regionales oder nationales Programm im Vordergrund steht. Dabei würde eine Archäologie des europäischen Judentums außerhalb der nationalen Grenzen zu einem besseren Verständnis des Judentums führen, das sich durch eine zweitausendjährige europäische Präsenz und durch eine große geographische Ausdehnung rund um das Mittelmeer auszeichnet.

Umso erfreulicher ist es daher, dass auf diese unbefriedigende Situation eine neue, von Paul Salmona (MAHJ), Philippe Blanchard (INRAP) und Amélie Sagasser (DHIP) verantwortete Publikation hinweist und brauchbare Lösungsansätze zu liefern vermag. Der vorliegende Band stellt die Ergebnisse eines 2022 von dem Institut national de recherches archéologiques préventives (INRAP), dem Musée d’art et d’histoire du Judaïsme (MAHJ) sowie dem Deutschen Historischen Institut Paris (DHIP) organisierten Forschungskolloquiums zur Diskussion, bei dem unterschiedliche Forschungsrichtungen und Forschungsfelder in der jüdischen Archäologie vorgestellt wurden. Diese Tagung versteht sich als eine Fortsetzung der von Paul Salmona und Laurence Sigal 2010 initiierten und organisierten Fachtagung zur Archäologie des Judentums in Frankreich und Europa, deren Kongressakten schon ein Jahr später veröffentlicht wurden.

Die vorgestellten Stätten, in der Regel Objekte aktueller Forschungsprojekte, liegen in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Spanien. Den mitteleuropäischen Ländern widmet sich leider nur ein Beitrag. Zwei der vorgestellten Ausgrabungsstätten wurde kürzlich der Status eines UNESCO Welterbes zuerkannt (Erfurt und die Schum-Städte Speyer, Worms, und Mainz). Die hervorragend dokumentierten (leider tagungstypisch zu kurzen) Forschungsbeiträge von dreißig Forschern aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, Österreich, Polen und Spanien stellen in fünf Sektionen und dreiundzwanzig Kapiteln einige der wichtigsten jüdischen Ausgrabungsstätten der letzten Zeit vor, vor allem materielle Kultstätten wie Synagogen, Miqva’ot (Ritualbäder) und Friedhöfe. Auf die Spuren seltener Genizot (Aufbewahrungsorte verbrauchter jüdischer liturgischer Schriften und Textilien) im Elsass und in Süddeutschland führt uns Claire Decomps in ihrem faszinierenden Beitrag über die Geniza von Dambach-la-Ville. Diese Genizot stammen aus den Landsynagogen des 18. und 19. Jahrhunderts und spiegeln das Leben der Juden nach ihrer Vertreibung aus den Städten im 15. und 16. Jahrhundert wider.

Ab den 1900er-Jahren rücken jüdische Ritualbäder in den Fokus der Forschung, sodass neben lokal- und regionalgeschichtlich orientierten Studien, die den Bädern unterschiedlich viel Gewicht geben, in der Folge zahlreiche länder- und regionenübergreifende wissenschaftlich fundierte Studien zu Tauchbädern entstehen. Stiefmütterliche Aufmerksamkeit erhält hingegen bis heute die Topographie mittelalterlicher jüdischer Städte (hier besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Maria Stürzebecher und Maike Lämmerhirt über das jüdische Erfurt). Weitere Beiträger widmen sich den neuzeitlichen Ghettos, den Stätten der Shoa und ihrer denkmalpflegerischen Nutzung als Träger der Erinnerung. Mit dem MiQua in Köln und dem Judenplatz in Wien gelangen auch jüdische Museen in den Fokus der Forschung, die mit dem jüdischen Ort als authentischem Befund arbeiten und im wahrsten Sinne des Wortes Gedächtnis- und Erinnerungsorte sind. Im Rahmen der Erinnerungskultur weist Benoît Pouvreau schließlich auf die besondere Bedeutung der häufig überschriebenen Graffiti in den Gefängnissen, Lagern und Vernichtungslagern hin, die – mal verdeckt, mal sichtbar – dadurch zu »räumlichen Palimpsesten« werden. Nicht unerwähnt soll der Beitrag von Johanna Lehr bleiben, die sich in ihrer vorzüglichen Studie den 270 Grabstätten der während der deutschen Besatzung im Lager oder in Krankenhäusern in Paris und Drancy verstorbenen internierten Juden widmet.

Ein umfangreicher Index nominum beschließt den sorgfältig edierten Band, dem hoffentlich bald eine weitere Tagung und ein weiterer Tagungsband folgen werden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Studemund-Halévy, Rezension von/compte rendu de: Paul Salmona, Philippe Blanchard, Amélie Sagasser (dir.), Archéologie du judaïsme en Europe, Paris (CNRS Éditions) 2023, 416 p., ISBN 978-2-271-14823-0, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108156