Auch wenn die jüngste Publikation von Jean-Claude Schmitt neben einem bisher unveröffentlichten Vortrag acht meist jüngere Aufsätze (von 2006 bis 2023, davon fünf aus den letzten drei Jahren!) zu einem Buch zusammenfasst, liest sich das Ganze wie eine Synthese des Themas im Rahmen eines Lebenswerks, das sich zentral der geschichtswissenschaftlichen Auswertung mittelalterlicher Bilder, vor allem im religiösen Kontext, gewidmet hat. Die vorangestellte Frage »Was ist ein Bild?« betont »représentation«, Figuralität und Materialität, wie sie in den Beiträgen dann ständig durchscheinen. Bilder vermitteln uns gleichzeitig »die Erfahrung anachronistischer Zeitschichten, in denen sich die Vergangenheit unablässig in die Erinnerung der Gegenwart ruft« (24).

In den Beiträgen wird das jeweils an verschiedenen Themen konkret verdeutlicht: Am »Paradox eines ikonophilen Monotheismus« »zwischen Idolatrie und Ikonoklasmus« wird die Präsenz religiöser Kultbilder vorgeführt, unter denen Kreuzes- und Mariendarstellungen mit dem Christuskind herausragen (und zugleich die Unterschiede in der Einstellung gegenüber Bildern im Judentum und Islam erkennen lassen). Unter dem Titel »Bild, Imitation, Figuration« werden diese drei mittelalterliche Bilder kennzeichnenden, in sich aber mehrdeutigen Begriffe diskutiert, die gleichzeitig Idealismus und Realpräsenz, Darstellung und deren Analogie und Sinnbildlichkeit verdeutlichen. Auch das wird in den folgenden Beiträgen immer wieder aufgegriffen und konkret veranschaulicht (auch wenn ich nicht so weit gehen würde, in der mittelalterlichen Kunst schon die Ideen der Aufklärung vorweggenommen zu sehen). So wird das »Tabernakel Moses« in den Darstellungen der Bible historiale von Guiart des Moulins des 14. Jahrhunderts zum Sinnbild des Tempels, mit Bezügen aber auch zur Arche Noah, zum Gesetz und zu Quaternitäten; das »verhängte Kreuz« wird zum Sinnbild Christi, das Tabernakel zum Werkzeug einer »visuellen, komplexen und mehrdeutigen Exegese« (so 121). »Les figures analogiques« im Vrigiet de solas vom Ende des 13. Jahrhunderts stellen in Medaillons (auch zahlensymbolisch) in typologischer Exegese die zehn Gebote den zehn Plagen und zehn Missbräuchen gegenüber: Das sichtbare Bild enthüllt in seiner Figuralität deren unsichtbaren Sinn. Das wird anschließend an den Kalendern des Bréviaire de Belleville (und deren Ableitungen) verdeutlicht, deren figurales Programm die Apostel Monat für Monat die Propheten entschleiern und die Synagoge zerfallen lässt; im Bilderzyklus von vier (von sieben) Psalmen symbolisieren sie die sieben Sakramente.

Der Beitrag über das Porträt ist dem Andenken an Erich Auerbach gewidmet. Unbeschadet früherer Selbstbildnisse der Künstler (zum Beispiel des Hrabanus Maurus), die durchaus eine zeitspezifische, individuelle Identität widerspiegeln, sowie des zeitgenössischen Begriffs entstehen realistische Porträts erst seit der Wende zum 14. Jahrhundert: als Herrscherbilder, auf Grabmälern und als Selbstporträts des Künstlers (Van Eyck). Schmitt unterscheidet Porträts im heilsgeschichtlichen, öffentlichen und privaten Kontext. In einem weiteren, etwas weniger durch Bilder gestützten und viel auf Auerbach rekurrierenden Beitrag befasst sich Schmitt mit »Materialität und Devotion« und betont, dass es im Mittelalter neben der immateriell-geistlichen stets eine materiell-körperliche Dimension gibt, die zu berücksichtigen ist, und verdeutlicht das am Beispiel des Opfers (Christi), an der zeitlichen und räumlichen Ordnung der Devotion und an den Bildern Robert Campins zur Geburt Christi; gerade die scheinbar belanglosen Kleinigkeiten des Alltags sind hier bedeutsam. Im Folgenden werden noch das Kreuz (und das Kreuzzeichen: »reflexiv« auf sich selbst oder »transitiv« auf Objekte, meist zur Abwehr, bezogen) als »rituelle Geste« behandelt und in die mittelalterliche Ritualität eingeordnet, im Sinne einer weit plastischeren Darstellung als üblich, unter Einbezug nicht nur des symbolischen Gehalts, sondern auch der affektiven Bedeutung. Mit zwei Beiträgen über die (körperliche) Auferstehung Marias und deren »zwei Körper« wird der Band beschlossen, der insgesamt nicht nur erstaunlich einheitlich wirkt, sondern einen hervorragenden Einblick in die Arbeit Jean-Claude Schmitts mit mittelalterlichen Bildquellen gewährt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hans-Werner Goetz, Rezension von/compte rendu de: Jean-Claude Schmitt, Les images médiévales. La figure et le corps, Paris (Gallimard) 2023, 368 p., 87 ill., ISBN 978-2-07-302688-0, EUR 29,50., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108157