Das vorliegende Buch ist ein hervorragender Beweis dafür, wie unverzichtbar die Historischen Grundwissenschaften, besonders Paläographie und Diplomatik, für die Geschichtswissenschaft sind. Denn Thomas Smith gründet seine innovativen Studien zur Entstehung und Rezeption der insgesamt 22 erhaltenen Briefe der Kreuzzugsführer, einzelner Kreuzfahrer, Prälaten und angeblich sogar des byzantinischen Kaisers in den Westen auf Textarchäologie (6), auf das genaue Studium der Handschriften und deren Überlieferung. Die bisher maßgebliche Edition der Briefe durch Heinrich Hagenmeyer aus dem Jahr 1901, welche die meisten der Briefe als authentisch einstufte, wird akribisch überprüft und in den historischen und literarischen Kontext der Entstehungszeit der Briefe eingebettet. Dabei ergeben sich völlig neue Einsichten hinsichtlich der Echtheit und intendierten Funktion der Stücke. Während die Kreuzzugsforschung sich der erzählenden Quellen bereits intensiv angenommen hat, steht dies für die Briefe noch aus. Hier schließt das Buch, um es vorwegzunehmen, eine wichtige Forschungslücke und öffnet neue Frageperspektiven für die Betrachtung der Kreuzzugsbriefe.
Smith macht durch Manuskriptstudien – in einem Anhang (197‑198) werden zahlreiche neue Textzeugen der Briefe angeführt - und close reading klar, dass viele der bisher als echt geltenden Stücke spätere Erfindungen, Zusammenfügungen, Erweiterungen und réécritures von in erster Linie monastischen Rezipienten aus dem Beginn des zwölften Jahrhunderts sind und nicht als Tatsachenberichte und Steinbrüche für die Realgeschichte des ersten Kreuzzuges genutzt werden dürfen. Die offene Form von Briefen, die nur salutatio und subscriptio als feste Bestandteile enthielt, eignete sich für flexible Anpassung an unterschiedliche Schreibabsichten (59). Ein Brief Stephans von Blois an seine Frau ist z. B. nur in einer Sammelhandschrift aus dem 17. Jahrhundert überliefert, die wahrscheinlich aus Saint-Denis stammt (63), vereint mit Briefen Sugers von Saint-Denis und Ivos von Chartres sowie liturgischen Texten. Smith belegt, wie »para-liturgical modes of worship« deren Funktion bestimmten. So konnte der Brief Stephans als Teil der Pfingstliturgie gelesen und bedacht werden (66).
Nehmen wir als weiteres Beispiel die undatierten angeblichen Briefe Kaiser Alexios' I. an den Abt von Montecassino: Auch diese werden von Smith als spätere Falsifikationen des ausgehenden 11. Jahrhunderts entlarvt. Es sei dem Autor, dem klösterlichen Schreiber Petrus Diaconus von Montecassino, bei der Abfassung seiner Klosterchronik darum gegangen, die Autorität des Abtes Oderisius I. als eines respektierten Briefpartners und Beraters des Herrschers zu erhöhen, indem er die Briefe in sein Register inserierte (22, 24). Das Kloster sollte auch in seiner Verbundenheit mit den erfolgreichen Kreuzfahrern dargestellt werden (27).
Auch die Briefe Urbans II. werden, Georg Strack folgend (31), einer genaueren Untersuchung unterzogen. Im Brief nach Bologna sei es eher um die lokale Durchsetzung der Kirchenreform denn um den Kreuzzug gegangen. Auch der Brief nach Vallombrosa zeige – im Einklang mit der Chronik des Fulcher von Chartres –, dass Jerusalem als Ziel des Kreuzzugs in Urbans Gedanken nicht die zentrale Rolle spielte (35). Die Bedeutung des Papsttums in der Vorbereitung und Durchführung des Kreuzzuges erscheint daher weniger prägend als bisher angenommen (56).
Verdienstvoll gerade im Hinblick auf ein nicht-wissenschaftliches Lesepublikum ist es, dass Smith die grundsätzliche Bedeutung seiner Befunde für übergreifende literaturwissenschaftliche und historische Fragestellungen immer wieder deutlich macht. So weist er auf den grundsätzlichen Unterschied zum modernen Verständnis von Briefen als privaten, nicht öffentlichen Zeugnissen hin (58). Im Mittelalter habe man vielmehr von einer Mischung beider Komponenten auszugehen, insofern Briefe an Einzelpersonen häufig als offene Briefe konzipiert und auf eine breitere Leserschaft (man müsste ergänzen: Hörerschaft) ausgerichtet waren (ibid.).
Die aufgrund genauer Manuskript- und Rezeptionsstudien gewonnenen Befunde des Verfassers lassen ein neues Bild des Entstehens der als unecht erkannten Briefe aus Outremer erkennen: Beflügelt vom Erfolg des Unternehmens und der Eroberung Jerusalems begannen in westlichen Bistümern und Klöstern vor allem im deutschen Reich und von »hubs« wie Reims und Arras ausgehend »scribe-readers«, die mit eigener werbender, lobpreisender bzw. liturgischer Agenda versehenen Briefe zu komponieren, kompilieren und sie ggf. sogar nach der Abschrift von Geschichtswerken, wie dem des Robertus Monachus, diesen anzufügen (17). Eine solche kommunikationsgeschichtliche Betrachtungsweise der Briefkultur um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert macht den Reiz und den Erkenntniswert des Buches aus. Der Verfasser zeigt, wie die Briefe als Teile einer auch oralen Kultur des Geschichte-Erzählens, die nicht streng zwischen Fakten und Fiktionen schied, wirkten. Man muss hinzufügen, dass ja auch historia im Mittelalter Teil einer überwölbenden theologischen Weltsicht war und als erster Teil einer mehrschrittigen Bibelexegese galt. Es ging um transzendentale Wahrheit, nicht um Faktizität. Die Briefe konnten daher gerade in einer Zeit, in der es darum ging, die »Wirklichkeit« Gottes in dessen Wirkmächtigkeit zu feiern und möglichst viele Christen daran teilhaben zu lassen, als in diesem Sinne wahre Zeugnisse wirken. So nimmt es nicht wunder, dass es textliche Berührungen der Briefe zur Dichtung wie den Chansons de geste und zu Chroniken, z. B. den Gesta Francorum, gibt, mit denen die Briefe gemeinsam ab- und umgeschrieben wurden (z. B. 67).
Smith bezeichnet die Briefe denn auch als »scribal crusading« (9), weil sie weniger als Augenzeugenberichte denn als Zeugnisse der Kreuzzugsbegeisterung und -werbung gelesen werden sollten. Sie entsprangen einer aktiven Rezeption der Texte aus Outremer im Westen, die selbst dazu beitrug, den Ruhm der Kreuzfahrer und deren Autorität zu stärken und zu verbreiten und liturgische memoria zu sichern (195): »Scribal activity is a form of crusading in its own right« (196).
Das Buch sei daher nicht nur Mediävisten, sondern auch Literaturwissenschaftlern zur Lektüre empfohlen, da es in die Methoden historischer Quellenkritik und Rezeptionsforschung einführt und wertvolle Ergebnisse zur mittelalterlichen Briefkultur und Mentalitätsgeschichte beisteuert.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Verena Epp, Rezension von/compte rendu de: Thomas W. Smith, Rewriting the First Crusade. Epistolary Culture in the Middle Ages, Woodbridge (The Boydell Press) 2024, XII–231 p., 1 map, 3 graphs, 6 b/w fig., ISBN 978-1-83765-175-7, GBP 70,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108159