Als zwischen 2002 und 2006 Ausgrabungen in Gent vor der barocken Kirche St. Peter durchgeführt wurden, bevor auf dem Sint-Pietersplein eine Tiefgarage gebaut werden sollte, fand man 291 Gräber. Diese befanden sich innerhalb und nördlich der Mauer des frühmittelalterlichen atrium, ferner unmittelbar vor der karolingerzeitlichen Kirche, wo sich in ottonischer Zeit das Westportal (»Westwerk«) öffnete, und nördlich der Abteikirche an der Tweekerkenstraat (Abb. 5, 169). Die Archäologen Geert Vermeiren und Marie-Anne Bru datieren die Grablegen vom 9. bis zum frühen 13. Jahrhundert (168). Nur eine davon kann genau datiert werden, die des Laien Vulferus, der am 10. Februar 1013 verstarb. St. Peter war in diesem Zeitraum eine Nekropole der flandrischen Grafenfamilie und ihrer Angehörigen gewesen (38‑39).
Zu den ältesten Gräbern an prominenter Stelle, vielleicht im Narthex oder zumindest unmittelbar vor der karolingischen Kirche (175), gehört das Grab S127 einer erwachsenen – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit weiblichen – Person. Bereits 2009 vermuteten die Historiker Georges Declercq und Alain Dierkens, dass es sich um das Grab der Judith gehandelt haben könnte, der Tochter des westfränkischen Königs Karl des Kahlen (840–877) und Gattin des Balduin I., des ersten namentlich bekannten Grafen von Flandern. Die Ausgrabungskampagne, die vorläufige Identifizierung des Frauengrabes S127 und eine Fernsehdokumentation über das geschichtliche Flandern 2023 gaben Anlass, sich in diesem Sammelband erneut mit der Person der Karolingerin Judith eingehend interdisziplinär zu beschäftigen. Der Herausgeber versteht das Werk insgesamt als eine »Meta-Biographie« der Judith (37).
Der Sammelband beinhaltet auch die 2021 erfolgten bio-anthropologischen Laboruntersuchungen der menschlichen Überreste in den ältesten sieben Gräbern, darunter auch von S127, die darin von einem elfköpfigen Forscherteam zusammengefasst werden (177–205). Die Frau in Grab S127 wird gemäß der osteologischen Analyse auf ein Alter zwischen 35 und 60 Jahren und eine Größe von 169 +/- 3,72 cm geschätzt. Ihre Skelettreste weisen auf eine geringfügige Skoliose und Abnutzungen am rechten Knie und rechten Fuß hin, die eine leicht gebeugte, links geneigte Haltung unter eventuellen Schmerzen verursacht haben könnte. Karies führte dazu, dass die Frau bereits vor ihrem Tod Zähne verloren hatte. Die Radiocarbonanalyse der Überreste erlaubt nur eine breite Datierung des Todesdatums zwischen 777 und 885. Die Frau ernährte sich proteinreich aus tierischen Produkten, wie die Isotopen-Analyse ergab, passend zu landgestützten Wohnverhältnissen mit Zugang zu Süßwasserfischen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch Meeresfische zur Verfügung standen, somit ein küstennaher Wohnraum zu erschließen wäre, doch gibt es hierzu nur eine sehr geringe isotopische Datenlage zum Vergleich. Es ist gut möglich, dass die Frau in Nordfrankreich aufwuchs, als sich ihre zweiten Zähne entwickelten, was zu Judith passen würde. Ein Vergleich mit Daten aus der Region von Wessex lässt zudem positiv zu, dass die Frau – wie Judith, als sie die Gemahlin von zwei westsächsischen Königen (856–858 Aethelwulf, 858–860 Aethelbald) war – im Alter zwischen 12/13 und 16/17 Jahren in dieser südenglischen Landschaft gelebt hatte.
Die archäologischen sowie biometrischen Daten und die historischen Erkenntnisse über die Lebensweise und die bevorzugten Begräbnisstätten von Adeligen und insbesondere der Grafenfamilie von Flandern lassen es also möglich erscheinen, dass es sich bei der Frau, die in Grab S127 beerdigt worden war, zumindest um eine sozial sehr hochgestellte Persönlichkeit, vermutlich um die westfränkische Karolingerin Judith handelt, doch eine zweifelsfreie Sicherheit ist darüber nicht zu gewinnen. Die vielseitigen historischen Beiträge von Steven Vanderputten, Charles West, Brigitte Meijns, Els De Paermentier und Lisa Demets beleuchten nochmals kritisch das Wissen aus den Schriftquellen zu Judiths Werdegang, zur Entstehung der Grafschaft Flandern, zu Balduin I. und den frühen Grafen von Flandern, auch zu den frühen Gräfinnen von Flandern, zur relativ kurzen Bedeutung von St. Peter als bevorzugte Grablege von Angehörigen der Grafen von Flandern und zu den Narrativen über Judith in spätmittelalterlichen flämischen Chroniken, ohne der Gefahr voreiliger Schlussfolgerungen und Identifizierungen zu erliegen. Georges Declercq prüft mit 15-jährigem Abstand seine Hypothese, dass Judith in Grab S127 bestattet worden sei und schließt mit den Worten: »In light of all this, I think it is therefore difficult to maintain that the woman in grave S127 could possibly be Judith« (157). Judith verschwindet aus den Quellen nach ihrer Hochzeit mit Balduin 863, und die lokale Tradition von St. Peter widmet ihr gleichfalls keinerlei Andenken. »In the absence of such evidence, all we can do is admit our ignorance. Therefore, the conclusion of this search for Judith’s grave can only be a negative one: in view of the silence of the abbey’s sources, it is almost certain that she was not buried at Saint-Peter’s« (157). Zweifel schürt ferner das archäologisch-anthropologische Ergebnis, dass Grab S127 und das Parallelgrab S150 vor der Erbauung der karolingischen Kirche mit erwachsenen Verstorbenen belegt worden waren (177).
Die Erklärungen, wie es aber zu diesem negativen Ergebnis kommt, machen die vorgelegten Untersuchungen zu einer höchst kurzweiligen und lesenswerten Studie zur frühmittelalterlichen Genese der Grafschaft Flandern mit Schwerpunkt auf dem »Gründerpaar« Judith und Balduin auf dem neuesten Forschungsstand. Ein gemeinsames Literaturverzeichnis am Ende des Bandes erleichtert den Geisteswissenschaftlern den Zugang zu dieser Thematik. Die technische Beschreibung der angewandten Methoden für die anthropologischen Untersuchungen im Anhang 3 ermöglicht in vorbildlicher Weise Naturwissenschaftlern das Nachvollziehen und die Prüfung der erzielten Ergebnisse und der Schlussfolgerungen daraus.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Brigitte Kasten, Rezension von/compte rendu de: Steven Vanderputten (ed.), Judith of West Francia, Carolingian Princess and First Countess of Flanders. Biographical Elements and Legacy, Turnhout (Brepols) 2024, 254 p., 5 b/w. tables, 22 col. fig., ISBN 978-2-503-60461-9, EUR 70,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108161