Zweifellos hat eine relectio über Arnulf von Kärnten ihre Berechtigung, da diesem letzten Karolinger im Konzert der Anwärter auf das Kaisertum des ausgehenden 9. Jahrhunderts zuletzt anlässlich seines 1100. Todesjahres 1999 am Ort seiner Lieblingspfalz in Regensburg ein breit gefächertes Symposion gewidmet wurde – alles schon etwas länger her. Eine Studie der Rezensentin fokussierte 1996 den Osten des regnum (»Bayern und das Reich in der Zeit Arnolfs von Kärnten«), was richtig war und durch Wolfram nun bestätigt wird. Aber wer war dieser letzte Kaiser aus der Dynastie der Karolinger wirklich? Wie weit ist es möglich, sich aus mediävistischer Sicht seiner Person anzunähern?
Diese Fragen haben Herwig Wolfram, den Meister der österreichischen Geschichtsforschung des Früh- und Hochmittelalters, lange beschäftigt; die vorliegende »biographische Skizze« ist das Resultat. Der Autor schöpft aus seinem profunden Wissen und bietet dem Lesepublikum eine sehr individuelle Reflexion des Quellenmaterials und ein fein skizziertes Porträt eines großen Kaisers.
Der Text basiert auf der exakten methodischen Analyse der zeitgeschichtlichen Überlieferung – folgend der Chronologie der narrativen Quellenaussagen in den beiden Versionen der Annales Francorum oder Reginos von Prüm in seiner zu Beginn des 10. Jahrhunderts verfassten Chronik; vor allem stützt sich Wolfram auf die zuverlässigen Datierungen der Herrscherurkunden, wodurch es ihm gelingt, das über mehr als 1000 Jahre zurückliegende, durch die Regierungsjahre des Kaisers geprägte Zeitgeschehen zu personalisieren und es den Lesern »Jahr für Jahr« zu vergegenwärtigen. Diese Methode ist nicht neu. Die berühmte Darstellung von Ernst Dümmler, Geschichte des ostfränkischen Reiches 1–3, 1862‑1888, Nachdruck 1960, hier Band 3, überzeugt noch immer; Wolfram betont, wie wichtig es ist, an diese wissenschaftliche Leistung anzuschließen. Er verwendet neben der Literatur aus seinem Schülerkreis – Schüler und Enkelschüler – aber vor allem seine beiden im Fußnotenapparat unter den Siglen GuR und WS genannten, offenbar parallel geschriebenen Werke Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung (1995) und Salzburg, Bayern, Österreich (1995) als Grundlage, selektiert aus ihnen, verfolgt nun aber auch kleine Hinweise in den spärlichen Quellenaussagen weiter als bisher. Seine biographische Skizze Arnulfs von Kärnten reflektiert daher nicht nur bisher Gesagtes, sondern ist ein weiterer Versuch des Autors, sich einer historischen Herrschergestalt aus verschiedensten Perspektiven methodisch Schritt für Schritt zu nähern. Spannend war bereits bei seinem 2000 im C. H. Beck-Verlag erschienenen Buch Konrad II. 990‑1039. Kaiser dreier Reiche die sehr persönliche Zugangsweise, die weit mehr als die üblichen »Herrscherdarstellungen« anzubieten hatte, dafür aber bei den Ereignisschilderungen bewusst auf Vollständigkeit verzichtete. Im Genre der modernen Biographie ist nicht die Vollständigkeit der Details entscheidend, vielmehr die Darstellung der »Lebensbahn« (P. Bourdieu) und von persönlichen Szenen, um die Beziehung zwischen dem »Helden« und dem Lesepublikum herzustellen.
Die Stilmittel biographischer Darstellungen wurden von Wolfram in seiner biographischen Skizze Arnulfs von Kärnten verfeinert. Allerdings darf man narrativen Quellen nicht alles glauben. Die hübsche Einzeldarstellung in Teil III. »Die Person«, Punkt 4 »Arnulf und die Frauen«, Punkt 4.7 »Ein alemannisches Mädchen verweigert sich dem König« (105–106) – schon etwas früher im Buch vorbereitet – basiert auf einer der vielen, mit gelehrten Zitaten geschmückten Erzählungen Ekkehards IV. (um 980‑nach 1057) in den St. Galler Klostergeschichten und findet sich innerhalb des Kapitels der Lebensbeschreibung der mächtigsten klerikalen Persönlichkeit Salomons III. im Bodenseeraum (um 860‑5.1.919/20), der Abt von St. Gallen und Bischof von Konstanz war. Die bis zur Niederschrift durch Ekkehard IV. über mehr als fünf Generationen erzählte Anekdote, deren reale Begebenheit Wolfram in der Zeit um 890 vermutet, strotzt natürlich von Topoi und Erzählmustern und meint, dass sich damals »Alemannia« – personifiziert durch ein schönes Mädchen – König Arnulf und seiner Herrschaft verweigert habe. Dabei wird auf die späteren Aufstände der alemannischen Grafen Erchanger und Berthold sowie des Markgrafen Burkhard angespielt, die allerdings in der Zeit von Arnulfs Nachfolger Ludwig dem Kind eskalierten, und in welche Bischof Salomon III. als Intrigant und dann Berater des jungen Königs verwickelt gewesen war. Sie endeten mit der Hinrichtung des Pfalzgrafen Erchanger und seines Bruders Berthold im Jahr 917 und bewirkten den Aufstieg der Burcharde zum alemannischen Herzogsgeschlecht noch während der Herrschaft Ludwigs des Kindes und König Konrads I. (vgl. A. Krah, Absetzungsverfahren, 1987, 244–255). Die Herrschaft König Arnulfs war von Anbeginn nicht nur schwierig, sondern von vielen, im Reich mächtigen Adeligen und deren Sippschaften nicht anerkannt worden. Als illegitimer Sohn König Karlmanns, dem nach dem Tod des aus dem Westfrankenreich gekommenen Kaisers Karl II. der Griff nach der Kaiserkrone am Weg nach Rom bereits im alemannischen Alpenraum verwehrt worden war, konnte Arnulf die militärischen Verbände des Ostfrankenreichs dazu bewegen, unter seiner Führung seinen Onkel, den physisch und psychisch geschwächten Kaiser Karl III., im November 887 zu entmachten, als dieser von einem Feldzug gegen die Wikinger/Normannen bis Paris nach Alemannien zurückgekehrt war.
Die ersten Jahre der Herrschaft Arnulfs 890–896 versteht Wolfram als steten Aufstieg, dem ein jäher Abstieg folge, die Jahre 897‑899 als Endphase. Es mag erstaunen, dass der Teil »Herrscher, Einrichtungen und Orte«, in welchem das Bayerische Ostland und dessen Nachbarregionen bis Bulgarien sowie die Ungarn und die Lieblingsorte Arnulfs auf den »Moosburgen« thematisiert werden, den Anfang des Buches bilden, gefolgt von einer chronologischen Reihung der Ereignisketten – »Von Jahr zu Jahr«, den Einzeldarstellungen einer Reihe von Personen, wobei den Frauen um Arnulf breiter Raum gegeben wird, gefolgt von 25 Seiten über den Adel in Auswahl (und nach den entstehenden Stammesherzogtümern gruppiert) und zuletzt einem kleinen Essay, in dem die Frage nach dem angeblich verschwundenen karolingischen Lehnswesen gestellt wird. Diese Struktur der Kapitel entspricht aber dem Titel des Buches und der lokalen Nähe des Kaisers zu seinem Herkunftsland, das er schon regierte, als sein Vater Karlmann noch König in Bayern war. Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Namens- und Ortsregister runden den Band ab.
Insgesamt bestätigt der Text die Sichtweise, dass Kaiser Arnulf mit der Macht auch die Probleme seiner Vorgänger und dabei sich selbst übernommen hat. Der Fokus von Teil IV. »Der Adel« ist zweigeteilt: Es gibt oppositionelle Gruppen und Helfer sowie Helferinnen, welche von Arnulf durch persönliche Schenkungen belohnt wurden, wodurch sie uns als historische Personen in den erhaltenen Diplomen Arnulfs bekannt gemacht werden. Die großen Probleme vor allem in Alemannien, in Lotharingien – dem nördlichen Drittel des von Kaiser Lothar I. für seine drei Söhne geteilten Mittelreiches – und in der sogenannten Ostmark haben Vorgeschichten, die zum Teil bis in die Regierungsjahre Ludwigs des Deutschen zurückreichen. Dazu kam die Abneigung der Sachsen, einen König aus Bayern anerkennen zu wollen, nachdem der eigene karolingische König Ludwig aufgrund eines Unfalls kinderlos verstorben war und das Reich schon damals auseinanderzubrechen schien. Arnulf hat im bayerischen Raum aber auch mächtige Magnaten gegen sich, die oder deren Verwandte bereits seinem Vater zu schaffen machten. Er ist gegen sie – vor allem aufgrund der zunehmend misslichen Situation im Grenzbereich gegen das Mährische Reich – rigoros vorgegangen. An der Belagerung Isanrichs in Mautern, Sohn des amtierenden Markgrafen Aribo/Arbo, ist Arnulf 899, vor seinem Tod, gescheitert. Viele dieser Themen werden von Wolfram in seinem Buch manchmal nur kurz der Forschungsgemeinde in Erinnerung gebracht, aber gerade diese »Gesamtmemoria« des Herrschers hat ihre unabdingbare Berechtigung und ihren Platz in der Wissenschaft. Manches an neuerer Literatur fehlt, etwa der Sammelband von S. Albrecht (Hg.), Großmähren und seine Nachbarn (2021) mit einem Beitrag von H. Wurster und A. Krah, »Glaube und Mission. Das Bistum Passau und Großmähren an der Peripherie der fränkischen Welt«. Ferner: Bezüglich der den Autor schon länger beschäftigenden Frage nach Ausmaß und Rechtsbereich innerhalb einer marca (»Mark«) – beides wurde in karolingischer Zeit sowohl regional wie temporal unterschiedlich behandelt, und aus der lothringisch-westfränkischen Sicht eines Regino von Prüm wird ein anderer Begriffsinhalt transponiert, als es die Realität vor Ort an der böhmisch-mährischen Grenze gewesen war –, sei auf die im Codex Laureshamensis überlieferte Kleinstrukturierung entlang des Mittelrheins und der heutigen Pfalz verwiesen, in welcher eine Vielzahl von marca-Bezeichnungen mit Ortzuweisungen wie etwa die »Linunga marca«, also der Bereich um das heutige Altleinigen, bereits zur Zeit der Sachsenkriege Karls des Großen überliefert ist, immer mit dem Ziel der Stabilisierung des Kleinraumes durch Stationierung von Militär und Missionierungsaufgaben gegen die noch nicht in das Reich integrierten Nachbarn (vgl. A. Krah, Die Herkunft des Fürstenhauses zu Leinigen. Zur Nachhaltigkeit eines Leitnamens und einer karolingischen Raumkonzeption, in: ZBLG 80, 2018). Man könnte entsprechend des Titels von Band 1 dieser Reihe »Produktivität einer Krise / La productivité d'une crise« für die Herrschaft des Kaisers »Arnulf von Kärnten« vielleicht ebenfalls von der Produktivität einer Krise sprechen, doch gerade in Hinblick auf die zentralen Veränderungen ab dem Beginn der Bruderkriege mit der Reichsteilung des Großreiches von 843, dem Entstehen eines westfränkisch-französischen regnum bereits während der Bruderkriege, den weiteren Teilungen des Mittel- wie des Ostreiches ist eher davon auszugehen, dass sich die Zeiten geändert hatten und es vor allem im Osten keine derartigen Regelungen der inneren Ordnung durch die karolingische Kapitulariengesetzgebung gab, wie sie im Westreich noch lange fortbestanden hatten und eben von Karl II. im Gegensatz zu seinen Stiefbrüdern ausgebaut und verfeinert worden waren.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Adelheid Krah, Rezension von/compte rendu de: Herwig Wolfram, Arnulf von Kärnten. Eine biographische Skizze, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2024, 168 S. (Relectio. Karolingische Perspektiven, 7), ISBN 978-3-7995-2807-8, EUR 22,70., in: Francia-Recensio 2024/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108163