In ihrem 2023 erschienen Buch Qui pose les questions mémorielles? untersucht die Sozialwissenschaftlerin Sarah Gensburger, wie vergangenheitsbezogene Fragestellungen zu einem bedeutenden Handlungsfeld staatlicher Politiken werden. Wie viele andere Studien im Feld der Memory Studies benennt sie eine »inflation mémorielle« (8), die das Erinnern zur zentralen sozialen Frage gegenwärtiger Gesellschaften machte. Das Besondere an Gensburgers Zugang ist dabei, dass sie den Bedeutungsgewinn erinnerungspolitischer Maßnahmen nicht als Konsequenz divergenter sozialer Forderungen verstanden wissen will, die dem Staat »von außen« aufgezwungen werden. Vielmehr steht im Fokus der Analyse, wie staatliches Handeln selbst die Strukturen hervorbringt, die die questions mémorielles zum zentralen politischen Handlungsfeld machen. In der Analyse des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Erinnerung geht es Gensburger daher nicht darum, die Bezugnahme auf eine bestimmte Vergangenheit wie die Shoah, den Versklavungshandel oder den Algerienkrieg zu analysieren. Stattdessen steht ganz generell die Frage im Raum, wie sich die Auseinandersetzung mit Erinnerungen als eigenständiges Themenfeld innerhalb von Politik und Verwaltung institutionalisiert (12).
Die Monografie ist in fünf analytische Kapitel unterteilt, die jeweils unterschiedlichen Untersuchungsdesigns folgen, um der übergeordneten Frage nach der Institutionalisierung von Erinnerung als etabliertem Handlungsfeld staatlicher Politik nachzugehen. Entsprechend bringt Gensburgers Studie ein umfassendes und beeindruckendes Methodenrepertoire zur Anwendung, zu dem teilnehmende Beobachtungen und selbstreflektierende Elemente ebenso gehören, wie Dokumentenauswertungen, der Aufbau von Datenbanken, die Archivrecherche und die Durchführung von Interviews. Auch wenn die historische Betrachtung in ihrer Analyse keiner Systematik folgt, werden die Untersuchungsgegenstände einer diachronen Betrachtung unterzogen.
Das erste Kapitel untersucht, wie sich Regierungsdirektiven in staatliches Verwaltungshandeln übersetzen. 2007/08 wird dabei von Gensburger als ein Schlüsseljahr für Frankreich identifiziert, in dem sechs Berichte verschiedener Kommissionen erarbeitet wurden, die sich den questions mémorielles widmen. Ihre Analyse zeigt dabei eindrucksvoll, dass die staatliche Erinnerungspolitik ein Machtmittel ist, mit dem die Einheit der »Nation« affirmiert werden soll, um ihre Autorität gegenüber den Ansprüchen zivilgesellschaftlicher Akteure und Akteurinnen zu bestätigen. Dabei geht es nicht darum, Wissen über die jeweiligen Vergangenheiten zu vermitteln und eine allgemeingültige Lesart der Geschichte zu entwerfen. Vielmehr reguliert der Staat mittels erinnerungspolitischer Maßnahmen das soziale Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, jedoch mit dem Ziel, die nationale Einheit zu erhalten und partikularistischen Forderungen (concurrences mémorielles) etwas entgegenzusetzen (69–70).
Um die im ersten Kapitel bereits angedeuteten Dynamiken besser verstehen zu können, entwirft das zweite Kapitel einen kursorischen historischen Überblick über die Institutionalisierung staatlicher Erinnerungspolitik seit der Nachkriegszeit. Hier zeigt sich bereits, dass es nicht den divergierenden Forderungen sozialer Akteure und Akteurinnen geschuldet ist, dass die Erinnerung zu einem festen Bestandteil öffentlichen und administrativen Regierungshandelns wird. Stattdessen sind die Entwicklungen auf Konkurrenzen innerhalb der Ministerien und Verwaltungen zurückzuführen. Daraus leitet Gensburger die Hypothese ab, dass der Staat selbst einen »marché mémoriel« geschaffen habe, auf dem sich erinnerungsaktivistische Gruppen diversifizieren und ihre Forderungen artikulieren konnten (114–115).
Kapitel 3 überprüft diese Annahme mithilfe der Erstellung von Datenbanken, die die Gründung von Vereinen und deren inhaltliche Ausrichtung seit den 1960er-Jahren nachzeichnet. Dabei wird deutlich, dass mit der zunehmenden Institutionalisierung der Erinnerung im staatlichen Handeln auch die zivilgesellschaftliche Mobilisierung erinnerungsbezogener Aktivitäten zunimmt. Ersichtlich werden somit die gegenseitigen Legitimationsdynamiken zwischen staatlicher Politik und zivilgesellschaftlichem Engagement, die letztlich das Politikfeld »Erinnerung« zum zentralen Gegenstand öffentlichen Handelns machen (152).
In Kapitel 4 untersucht Gensburger die Kommunalpolitik der Stadt Paris und inwiefern erinnerungspolitische Maßnahmen zu einer Ressource für die lokalen Akteure und Akteurinnen werden. Mit der Übertragung des Politikfelds »Erinnerung« von der nationalstaatlichen auf die kommunale Ebene beschreibt Gensburger den Prozess einer voranschreitenden »Denationalisierung« staatlicher Autorität und der Erosion einer einheitlichen nationalen Geschichtserzählung (récit national). Als Folge dieser horizontalen Diversifizierung des staatlichen Handelns im Feld der Erinnerungspolitik tritt eine wachsende Zahl sozialer und kommunaler Akteure und Akteurinnen auf, die sich jedoch einer gemeinsamen »Sprache der Erinnerung« bedienen (268).
Im fünften und letzten Kapitel richtet sich Gensburgers Interesse auf die öffentliche Wirkung der kommunal wie staatlich umgesetzten erinnerungspolitischen Maßnahmen. Im Zentrum stehen die Rezeptionsanalysen von zwei Ausstellungen, die 2014 zum hundertjährigen Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Paris organisiert wurden. Im Anschluss an das erste Kapitel bestätigt sich, dass die Vermittlung historischer Fakten gegenüber der Bestätigung humanistischer Werte nachrangig ist. Hierin liegt die staatliche Wirkmacht der erinnerungspolitischen Maßnahmen als sozialer Ordnungsmechanismus: die Besucher und Besucherinnen der Ausstellungen, ausgestattet mit einem hohen Bildungsgrad, bestätigen mit ihrem Besuch ihre professionelle oder familiäre Identität und ihren bereits bestehenden humanistischen Wertekanon. Die bereits beschriebene »Denationalisierung« staatlicher Autorität macht den Staat als politischen Akteur in der Beauftragung der Ausstellungen allerdings unsichtbar. Als Folge werden die Ausstellungen als »objektive« und »neutrale« Vergangenheitsrepräsentationen wahrgenommen und entsprechend depolitisiert (230).
Indem Gensburger ihre Studie nicht an der Betrachtung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhandlung spezifischer Vergangenheiten ausrichtet, wie etwa der Shoah oder des Versklavungshandels, gelingt es ihr aufzuzeigen, wie die questions mémorielles zu einem Feld staatlichen Handelns werden und sich als etabliertes Politikfeld im französischen Verwaltungshandeln institutionalisieren. Eine besondere Stärke der Arbeit ist dabei, dass Gensburger der gegenseitigen Bedingtheit von Erinnerungspolitik auf nationaler und kommunaler Ebene sowie des Verhältnisses von staatlichem Erinnerungshandeln und gesellschaftlicher Mobilisierung nachgeht. Dies ermöglicht es ihr, deren Gegenüberstellung aufzulösen und vielmehr die aufeinander bezogenen Legitimationsdynamiken herauszuarbeiten. Als Folge kann die Etablierung von erinnerungsbezogenen Fragestellungen als Feld staatlicher Politik und somit als Machtmittel beschrieben werden, das das Verhältnis von Regierenden und Regierten reguliert. Für Leser und Leserinnen, die mit dem französischen Kontext wenig vertraut sind, mögen einige Beschreibungen der administrativen Abläufe und ihrer Akteure und Akteurinnen mitunter zu detailliert sein. Gleichwohl gibt Gensburger mit der analytischen Beschreibung von Erinnerungsregimen ein Analyseinstrument an die Hand, dass zu vergleichenden Forschungsperspektiven einlädt – schließlich lässt sich die wachsende Bedeutung der questions mémorielles für Staat und Gesellschaft in ganz Europa beobachten.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sahra Rausch, Rezension von/compte rendu de: Sarah Gensburger, Qui pose les questions mémorielles?, Paris (CNRS Éditions) 2023, 333 p., ISBN 978-2-271-14702-8, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2024/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108210